# taz.de -- Sozialpädagogin über pflegende Eltern: „Diese Eltern sind unerh… | |
> Eltern behinderter Kinder brauchen Solidarität, sagt die Münsteraner | |
> Sozialpädagogin Sabine Schäper. Stattdessen bekommen sie | |
> Schuldzuweisungen. | |
Bild: In den Familien von Kindern mit Behinderung ist die Solidarität hoch –… | |
taz: Wie alleine gelassen sind ältere Eltern von Kindern mit Behinderung, | |
Frau Schäper? | |
Sabine Schäper: Insgesamt lässt die Gesellschaft [1][Angehörige von | |
Menschen mit Behinderungen] oft noch sehr alleine, auch die Politik tut das | |
nach wie vor. Viele Fragen von Eltern von Kindern mit Behinderung haben | |
nach wie vor keine Antwort gefunden, alltägliche Sorgen oder auch die Frage | |
nach sozialer Einbindung – obwohl sich in den letzten Jahrzehnten sehr viel | |
getan hat. | |
In einer Publikation der Lebenshilfe werden diese älter gewordenen Eltern | |
die „unerhörten Eltern“ genannt. Was ist damit gemeint? | |
Ich finde die Formulierung sehr treffend, weil einerseits drinsteckt, dass | |
sie permanent überhört werden. Aber genau deshalb sind manche Eltern auch | |
im übertragenen Sinne manchmal unerhört, weil sie ihre Stimme an bestimmten | |
Stellen umso deutlicher erheben müssen und deshalb von anderen als lästig | |
empfunden werden. | |
Liegt die Unsichtbarkeit der Eltern auch daran, dass sie im Alltag so | |
gefordert sind, dass für Lobbyarbeit keine Kraft mehr bleibt? | |
Es gibt Studien dazu: Die Eltern kommunizieren zum Teil ihre Nöte nicht | |
mehr nach außen, weil sie so sehr mit der Organisation des Alltags | |
beschäftigt sind – und weil sie sich daran gewöhnt haben, dass sie alles | |
selber regeln. Es gibt oft ein hohes Maß an innerfamiliärer Solidarität, | |
das ich immer wieder beeindruckend finde. Es ist auch eine Reaktion auf die | |
langjährige Erfahrung: am Ende kommt sowieso niemand auf uns zu und fragt | |
uns, ob wir Unterstützung brauchen. | |
Noch einmal zur Unsichtbarkeit: Je älter Menschen mit Behinderung werden, | |
desto weniger tauchen sie im öffentlichen Raum auf. Woran liegt das? | |
In den jüngeren Lebensphasen funktioniert Inklusion noch relativ gut, etwa | |
in der Kindertageseinrichtung. Da ist der Grad an inklusiven Einrichtungen | |
noch relativ hoch, auch in der Grundschule. Ab den Sekundarschulen wird es | |
dann deutlich weniger, da gehen die Begegnungsräume zurück und die soziale | |
Isolation sowohl des behinderten Familienangehörigen wie auch der Familie | |
insgesamt verschärft sich. Gerade die Generation der jetzt älteren Mütter | |
ist da betroffen. | |
Warum? | |
Viele von Ihnen haben ihren Beruf aufgegeben und sind nicht wie andere | |
wieder eingestiegen, weil auch der erwachsen gewordene Mensch zuhause | |
geblieben ist. Damit trifft insbesondere die Mütter auch ein höheres | |
Armutsrisiko. | |
Ist das auch die Generation, die sich jetzt mit der Frage beschäftigt, was | |
passiert, wenn sie ihr erwachsenes Kind nicht mehr selbst versorgen können? | |
Diese Frage entsteht natürlich irgendwann, selbst wenn Familien aufgrund | |
dieser Solidarität sehr lange die Situation halten. Mit der eigenen | |
Pflegebedürftigkeit oder der des anderen Elternteils spitzt es sich häufig | |
so zu, dass es nicht mehr geht. Dann werden manchmal sehr adhoc | |
außerfamiliäre Alternativen gebraucht, und das ist oft eine sehr kritische | |
Situation. Manche Eltern hören auch auf, sich darüber Gedanken zu machen, | |
weil es ein sehr schmerzhafter Prozess ist, und weil es auch hier zu wenig | |
Beratungsangebote gibt. | |
Gibt es Angebote, in denen Eltern ihre Kinder gut aufgehoben glauben | |
können? | |
Natürlich. Da hat sich die Landschaft sehr deutlich verändert. Es gibt | |
einen Trend, dass größere Einrichtungen zurückgehen und die kleineren | |
ambulanten Angebote zunehmen. Das ist politisch und inhaltlich-fachlich | |
gewollt. Das entspricht auch der [2][Behindertenrechtskonvention] der | |
Vereinten Nationen: Menschen mit Behinderungen sollen selbst entscheiden, | |
wie und mit wem sie leben möchten. Die Wohnform soll so normal wie möglich | |
sein. Das Problem ist, dass die Finanzierung dieser Angebote zum Teil | |
brüchig ist. Die sozialrechtlichen Bedingungen sind an manchen Stellen | |
immer noch ein großes politisches Problem. | |
Was sind das für Bedingungen? | |
Es gibt einen Anspruch von Menschen mit Behinderung auf | |
Eingliederungshilfe, um die Teilhabe am Leben der Gesellschaft zu | |
ermöglichen. Darin stecken Leistungen zur Teilhabe an Bildungs- und | |
Arbeitsangeboten. Auch die Betreuung in Wohneinrichtungen wird darüber | |
finanziert. Dazu kommt die Unterstützung aus dem Bereich der Pflege, weil | |
viele dieser Menschen auch pflegebedürftig sind. An dieser Stelle gibt es | |
ein Problem: wenn ich in eine stationäre Einrichtung gehe, gibt es nicht | |
mehr die vollen Leistungen aus der Pflegeversicherung, sondern nur noch | |
einen Teilbetrag aus der Pflegeversicherung. Gerade für sehr innovative | |
kleine Wohn- und Hausgemeinschaften kann dies ein Problem sein. In kleinen | |
Wohngemeinschaften braucht es Hilfemix-Lösungen, das heißt die | |
verschiedenen Leistungen müssen gut zusammenspielen. Das ist nicht so | |
einfach. | |
Das ist doch paradox. Gerade wenn offiziell das Bekenntnis der Politik zu | |
eben diesen kleineren Angeboten geht. | |
Es ist letztendlich ein ökonomisches Thema. Wieviel Geld ist die Politik | |
und die Gesellschaft, die dahinter steht, bereit, in dieses System zu | |
geben? Die Kosten der Eingliederungshilfe steigen, weil Menschen mit | |
Behinderung älter werden und damit länger diese Leistungen beziehen als | |
früher. Das ist erfreulich. Gleichzeitig steigen die Fallzahlen. Deshalb | |
brauchen wie neue Lösungen und innovative Ideen. | |
Und das angesichts des Zulaufs zur Pränataldiagnostik? | |
Der Denkfehler an dieser Stelle ist, zu vermuten, dass der Hauptanteil von | |
Behinderungen genetisch verursacht ist – aber es ist der kleinste Teil, bei | |
weit unter 10 Prozent der Menschen mit Behinderungen sind die Ursachen | |
vorgeburtlich oder genetisch bedingt – mit rückläufiger Tendenz eben | |
aufgrund der vorgeburtlichen Diagnostik. Der größere Teil entsteht durch | |
Komplikationen vor oder während der Geburt oder solche in der frühen | |
Kindheit, etwa durch Infektionskrankheiten. Was dazu kommt: durch die gute | |
medizinische Versorgung, die wir haben, überleben mehr frühgeborene Kinder | |
oder solche mit schweren Erkrankungen. Die steigenden Fallzahlen werden | |
dann politisch ins Feld geführt, um zu begründen, weshalb man die | |
Leistungen an verschiedenen Stellen deckeln muss. Ein Mechanismus dazu ist | |
der sogenannte Mehrkostenvorbehalt in der Eingliederungshilfe. | |
Der bedeutet? | |
Leistungen außerhalb der klassischen stationären Angebote dürfen nicht | |
teurer sein. Das ist eine Bremse, die volkswirtschaftlich nachvollziehbar | |
sein mag, aber im Einzelfall ein Problem ist. | |
Über wie viele Menschen und welche Summen reden wir da? | |
Das kann niemand verlässlich sagen. Es scheitert schon daran, dass die Zahl | |
der Menschen mit Behinderung, die bei ihren Eltern leben, nicht bekannt | |
ist. Es gibt bei uns Gott sei Dank keine Meldepflicht für Menschen mit | |
Behinderung, das liegt an der Geschichte der [3][Euthanasieverbrechen]: Die | |
Meldepflicht war damals eine Voraussetzung für die systematische | |
„Verlegung“ und schließlich Tötung von Kindern und Erwachsenen mit | |
Behinderungen. Heute kann man nur grob schätzen, wie viele Menschen mit | |
Behinderungen in ihrer Herkunftsfamilie leben. Nach einer Schätzung sind es | |
derzeit etwa 240.000 erwachsene Menschen mit Behinderung, die bei ihren | |
Eltern leben. Weil verlässliche Zahlen aber fehlen, vor allem zu den Trends | |
über mehrere Jahre, kann niemand sicher sagen, ob die Befürchtung von | |
explodierenden Kosten in der Eingliederungshilfe zutrifft. | |
Es gibt – so wird manchmal berichtet – eine Schere zwischen den Wünschen | |
der Erwachsenen mit Behinderung, die mehrheitlich zu Hause bleiben wollen, | |
und den pflegenden Angehörigen, die sich eher eine Betreuung außer Haus | |
vorstellen. Spricht daraus Überforderung oder der Wunsch nach | |
Selbstständigkeit für das Kind? | |
Ich würde das nicht verallgemeinern: Die häuslichen Situationen sind sehr | |
unterschiedlich, Daher auch das subjektiv empfundene Gefühl von | |
Überforderungen. Es gibt beide Tendenzen: Es gibt die Eltern, die sich | |
nicht lösen können, weil sie nicht das Vertrauen haben, dass es außerhalb | |
der Familie ausreichend sicher ist. Andererseits haben Eltern die Idee, | |
dass sich das erwachsen gewordene Kind im frühen Erwachsenenalter – wie | |
alle anderen – auf eigene Füße stellt. Da gibt es auch gute Möglichkeiten, | |
sich darauf langfristig vorzubereiten. In der Generation der jetzt alten | |
oder hochbetagten Eltern was das oft kein Thema, weil schlicht die Angebote | |
außerhalb der Familie fehlten. | |
Hängt das auch vom Grad der Behinderung ab? | |
Bei einer schweren Behinderung gibt es vielleicht nicht das eine gute | |
Angebot und man muss um eine Person herum verschiedene Angebotsformen | |
zusammenführen. Das ist in unserer jetzigen sozialrechtlichen Landschaft so | |
kompliziert, dass viele diesen Weg nicht gehen, weil sie das Vertrauen und | |
das Wissen um die verschiedenen Möglichkeiten nicht haben. | |
Wird die nächste Elterngeneration sichtbarer sein? | |
Das erleben wir schon seit geraumer Zeit. Schon seit den 1980er Jahren gibt | |
es Elterninitiativen, die sehr deutlich um das Recht auf inklusive Bildung | |
kämpfen, aber auch um Wohnangebote, die viel Individualität zulassen. Ich | |
glaube, es bräuchte auch von der Gegenseite eine Bewegung auf sie zu. Ich | |
glaube, dass Eltern bis heute vermissen, dass die Gesellschaft sagt: Wir | |
stehen zu euch. | |
Passiert das? | |
Stattdessen gibt es vor dem Hintergrund der pränatalen Diagnostik eine neue | |
Art von Schuldzuweisungen im Sinne von: Wäre das nötig gewesen? Man muss | |
vorsichtig sein, das nicht zu schnell mit Haltungen zu verbinden, die es im | |
Nationalsozialismus gegeben hat. Aber diese Zuschreibung „Ihr seid eine | |
Belastung für die Gesamtheit“, ist latent in unserer Gesellschaft | |
vorhanden. Man muss da sehr aufpassen, dass es nicht umschlägt, in | |
Schuldzuweisungen an Einzelne mit allen Konsequenzen, die das haben kann. | |
8 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Ohne-Lobby-Pflegende/!5639094 | |
[2] https://www.behindertenrechtskonvention.info/ | |
[3] /75-Jahre-Auschwitz/!5656733 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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