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# taz.de -- Ohne Lobby: Pflegende: „Alter, halt' durch“
> Für seinen behinderten Sohn Nico geht Arnold Schnittger auch in den
> Sitzstreik. Doch was wird, wenn er nicht mehr da ist? Ein Protokoll.
Bild: Arnold und Nico Schnittger in ihrer Wohnung in Hamburg
Wenn das Kind 18 wird, ist das so das Alter, wo man es loslassen müsste,
unter normalen Umständen. Dann geht das Kind aus dem Haus, heiratet, oder
will eine eigene Wohnung haben. Bei Eltern behinderter Kinder ist das der
Augenblick, wo man überlegt, gebe ich das Kind, mein Kind, ins Pflegeheim
oder nicht. Das schaffen viele nicht, ich zum Beispiel auch nicht, und das
ist eine ganz kritische Sache. Es gab in der Vergangenheit viele
schreckliche Ereignisse, wo die Eltern, meist die Mutter, schon hochbetagt
ihr 40-, 50-jähriges Kind noch versorgen, sie klappt irgendwann zusammen
und dann sitzt das Kind neben der Leiche oder beide begehen Selbstmord. Da
muss man sehen, dass man den Absprung und das Loslassen rechtzeitig
realisiert.
Nico hat einen ganz besonderen Zuwendungsbedarf, ich bin überzeugt, dass er
den in einem Heim nicht bekommt, bei allem Wohlwollen, das hängt mit der
Profitorientierung zusammen. Da kam plötzlich die Idee, wie wäre es mit
einem Bauernhof und man macht es mit mehreren Eltern und baut ein
Konstrukt, das die Kinder auch im Alter versorgt sind. Daher auch der Name
[1][„Nicos Farm“]. Dann habe ich aber sehr schnell festgestellt, dass wir
dazu viele Familien brauchen.
Ich wandere ja immer wieder mit Nico, um auf die [2][Situation pflegender
Angehöriger] aufmerksam zu machen. Als wir zum Bodensee gewandert sind,
kamen wir durch Amelinghausen, da kam der Bürgermeister auf uns zu und hat
uns zum Kaffee eingeladen. Er sagte: Ich habe ein Grundstück und so eine
Einrichtung wie Nicos Farm suche ich schon seit Jahren für meine Gemeinde,
guckt euch das doch mal an.
Wir hatten zu der Zeit noch einen Baubetreuer, einen älteren Herrn, mit
allen Wassern gewaschen, der wollte uns dabei unterstützen. Im ersten
Anlauf sind wir kläglich gescheitert. Die N-Bank, die hat sich unser
Konzept angesehen, klar, das finanzieren wir. Dann haben wir, das hat zwei
Jahre gedauert, alles entwickelt, ein Projekt von zehn Millionen. Wir haben
das der Bank vorgelegt, die prüfte ein halbes Jahr und sagte: Wir haben
vergessen, euch zu sagen, dass ihr natürlich einen Bürgen braucht. So, wo
kriegen wir jetzt einen Bürgen her für zehn Millionen Euro?
## „Machmal beiße ich in die Tischkante“
Ich habe alle möglichen Mäzene angesprochen, Otto-Versand, Herrn Kühne und
so weiter, haben alle dankend abgelehnt. 14 Tage später lese ich in der
Zeitung, dass einer von denen dem HSV zehn Millionen Euro geschenkt hat.
Wir haben versucht, andere Investoren zu finden, das ist uns leider nicht
gelungen. Inzwischen gibt es eine neue Bürgermeisterin in Amelinghausen, wo
man uns jahrelang das Grundstück bereit gehalten hat und da ich immer nicht
in die Puschen gekommen bin und es nicht geregelt bekam, haben sie gesagt,
jetzt verkaufen wir das an einen anderen Investor.
Manchmal beiße ich auch in die Tischkante. Meine Energie, die hole ich mir
von Nico, ohne ihn hätte ich schon längst hingeschmissen. Da hätte ich
gesagt: Kommt Leute, wenn ihr mich nicht unterstützt, dann müsst ihr sehen,
wie ihr klar kommt. Das kann ich aber nicht machen, die Frage ist immer
noch, was wird mit Nico, wenn ich nicht mehr bin.
Er war schon als Baby immer fröhlich, aber er hätte anfangen müssen, zu
robben oder sich zu bewegen, das hat er alles nicht gemacht, nur in der
Ecke gesessen und sich schlapp gelacht. Dann geht man zum Kinderarzt, ach,
da ist alles in Ordnung, Spätzünder, dann machen wir ein bisschen
Frühförderung, dann kommt das schon. Ja, kam aber nicht. Nach einem Jahr
war ziemlich sicher, dass irgendetwas faul ist, dann haben wir
Untersuchungen durchgeführt, aber alles ohne Befund, möglicherweise hat
Nico zu wenig Sauerstoff bei der Geburt gekriegt.
Man muss sich, wenn man ein behindertes Kind hat, alles erarbeiten. Die
meisten fallen erst mal, wenn das Kind die Diagnose hat, in ein tiefes
Loch. Wissen gar nicht, wo sie hingehen sollen, welche staatlichen Hilfen
gibt es, wo kann ich Anträge stellen, das sagt einem keiner. Wenn ich zum
Amt gehe und sage, ich habe ein behindertes Kind, dann zucken sie mit den
Schultern. Da ist keiner, der sagt: Mensch, du kannst Verhinderungspflege
beantragen oder dies oder jenes. Wenn man ein behindertes Kind kriegt,
braucht man einen guten Kinderarzt und einen guten Rechtsanwalt, das ist so
die Grundausstattung.
## Ein Gutachten: das Kind ist immer noch behindert
Es war sehr nachteilig, dass Nicos Mutter sehr krank geworden ist, sie
konnte nicht mehr arbeiten, war in der Klinik und in der Reha, und ich
konnte dann auch nicht mehr arbeiten, und dann ging es los mit der
Behördenwillkür. Unsere Gesellschaft ist immer noch darauf ausgelegt, dass
die Mutter alles tut. Die Mutter muss die Kinder versorgen, wieso denn der
Vater.
Jetzt habe ich Rente, jetzt bin ich fein raus. Aber die ganzen Jahre mit
Hartz IV musste ich alle halbe Jahre ein Gutachten vorlegen, dass das Kind
immer noch behindert ist und mich fragen lassen, warum ich nicht arbeite.
Gehen Sie neben der Pflege doch zur Arbeit, hieß es. Das ist nicht eine
Sache, die mich allein betrifft, sondern das betrifft alle pflegenden
Angehörigen. Ich hatte noch das Privileg, dass Nico Pflegegrad fünf hat, da
steht man dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Wie auch, bei einer
24-Stunden-Pflege. Das Amt möchte es aber trotzdem. Dieser Druck, der da
aufgebaut wird, immer mit dem Hinweis auf Sanktionen.
Mit Hartz IV hatte ich 4,60 Euro am Tag für Frühstück, Mittag-, Abendessen,
da kann man keine großen Sprünge machen. Es wirkt sich bis ans Lebensende
aus. Dadurch konnte ich keine Rentenbeiträge zahlen. Ein bisschen ist durch
die Pflegekasse reingekommen, aber das reicht nicht aus, um eine anständige
Rente zu bekommen.
Man muss sich alles neu erkämpfen. Die haben gesagt, ihr könnt einen
Rollstuhl beantragen und dann geht man zur Krankenkasse und dann sagen die:
eine Karre genügt auch.
Wenn man in eine Behörde kommt, ist nicht die Frage, was können wir für Sie
tun, sondern erst mal: Stimmt das auch, haben Sie überhaupt ein Kind, ist
das wirklich behindert. Es ist ein Misstrauensverhältnis.
## Keine Reha für geistig Behinderte
Nicos Reha ist mit der Begründung abgelehnt worden, er sei geistig
behindert. Damit kann man jede Kur bei einem geistig behinderten Kind
knicken. Da habe ich mich fürchterlich geärgert. Er hatte vorher eine OP
und dann so tierische Schmerzen. Dann habe ich die Ärztin bei der
Staatsanwaltschaft angezeigt. Wegen Körperverletzung, Verstoß gegen die
ärztliche Sorgfaltspflicht, gegen die Menschenwürde, Verstoß gegen die
[3][UN-Behindertenrechtskonvention]. Vom Staatsanwalt kam zurück,
Körperverletzung sei es nicht, weil sie ihm ja nicht auf die Nase gehauen
hat, für die Menschenwürde sei er nicht zuständig. Ich weiß nicht, wer für
die Menschenwürde zuständig ist.
Dann habe ich mich bei der Ärztekammer beschwert, die haben die Ärztin
zumindest aufgefordert, Stellung zu nehmen. Da hat sie gesagt, sie hätte
das Pflegeprotokoll durchgelesen und festgestellt, er sei geistig
behindert, mehr müsse sie nicht machen. Deswegen habe ich meine Gruppe
[4][„Pflegerebellen“] gegründet, wir lassen es nicht mehr zu, ich sage es
mal negativ, ich hetze die Leute auf, dass sie sich wehren.
Dann bin ich zur Krankenkasse gegangen und habe gesagt, die Reha ist
abgelehnt worden, dann sagten die, das wissen wir. „Die ist notwendig, die
müssen wir unbedingt machen“, ja, können wir auch nicht ändern. Und dann
bin ich einfach sitzen geblieben. „Wir können es nicht ändern.“ Ich sag:
„Hab ich verstanden. Sie können die Polizei rufen lassen. Fühlen Sie sich
irgendwie besetzt, ich geh hier nicht weg“.
Das ist ein Zorn, der so hochgekommen ist. Aus dem Saulus ist ein Paulus
geworden und bei mir ist es genau umgekehrt. Ich war ein netter, ruhiger
Mensch und bin eine Schweinebacke geworden. Erst mal auch die einzige
Möglichkeit, Erfolg zu haben, und für sich selber auch: dass man nicht
alles schluckt und alles hinnimmt, sondern dass man auch kämpft. Das ist
ganz wichtig, dass du kämpfst für das, was du liebst.
## „Herr Spahn, wir müssen reden“
Ich hatte Herrn Spahn einen Brief geschrieben, weil ich verärgert war.
Eigentlich hätte ich zu Frau Merkel gehen müssen, weil sie diejenige war,
die ihn eingesetzt hat und damit die Pflege letztendlich verraten hat. Denn
es war von vorneherein klar, dass Spahn aufgrund seiner Biografie nicht der
richtige Mann ist, um ein Gesundheitsministerium zu führen. Von der
Qualität her vielleicht ja, aber nicht von der Empathie. Da hatte ich einen
Brief geschrieben und habe flapsig gesagt, Herr Spahn, ich komme mal auf
einen Kaffee vorbei, wir müssen reden.
Es war gar nichts, niemand kam heraus, obwohl Ver.di vor der Tür noch eine
Kundgebung gemacht hat, die hatten eine große Kaffeetafel aufgebaut.
Da war ein Stuhl frei, darauf stand „Jens Spahn Minister für alles
Mögliche“, weil das so eine Zeit war, in der er sich in alles Mögliche
eingemischt hat, Hartz IV und was weiß ich alles. Herr Spahn ist nicht
gekommen, auch kein Vertreter vom Ministerium, nicht meinetwegen, das hätte
ich auch nicht erwartet, aber nachdem Ver.di da groß aufgebaut hatte,
Rundfunk war da, da hätte ein Statement gepasst.
Weil nichts kam und weil so viel Presseinteresse bestand an der ganzen
Aktion, habe ich gedacht, dass kann man nicht einfach so versickern lassen.
Dann habe ich die pflegenden Angehörigen angeschrieben, die ich so kannte,
und die Foren, Facebook, Vereine und so weiter, und gesagt: Mensch Leute,
schickt mir doch mal eure Lebens- und Leidenssituation. Ich geh’ noch mal
zu Herrn Spahn, diesmal mit der Bahn, das geht schneller, und wenn er mich
nicht empfängt, dann schütt’ ich ihm den Waschkorb voller Briefe eben vor
die Tür.
## Die Polizisten wussten, worum es geht
Es ist leider ein bisschen anders gelaufen, als ich mir das vorgestellt
habe, ich hatte erwartet, mein Briefkasten läuft über, wenn der DHL-Wagen
mit den vielen Briefen kommt. 20 Briefe hatte ich dann bekommen, das war
natürlich ein bisschen mager und damit brauchte ich nicht zu Herrn Spahn zu
gehen, da hätte er mich ausgelacht, da hätte er gesagt: Was, mehr ist das
nicht, da kann das Problem ja nicht so schlimm sein.
Da habe ich gedacht, dann mache ich eine Lesung vor dem Ministerium und
behaupte, ich habe Hunderttausend Briefe gekriegt und aus diesen
Hunderttausend Briefen habe ich 20 rausgenommen. Herr Spahn kam raus, sah
uns und machte einen großen Bogen auf die andere Straßenseite. Ich hatte
die Aktion natürlich angemeldet und hatte zwei Polizisten als Bewacher, die
waren aber beide total nett. Es waren beides Betroffene, der eine hatte
einen dementen Vater, der andere hatte eine Ehefrau mit starken
Depressionen, die wussten, worum es geht.
Sein Pressesprecher kam heraus und sagte, Herr Spahn könne auf solche
Sachen überhaupt nicht reagieren, dann käme jede Woche jemand und würde mit
ihm sprechen wollen. Dann kam der Schlüsselsatz: Und im Übrigen bekämen die
pflegenden Angehörigen überhaupt keine weiteren Zuwendungen, jetzt wären
die Pflegekräfte in den Altenheimen und Krankenhäusern dran, die pflegenden
Angehörigen hätten in der letzten Legislaturperiode durch das
Pflegestärkungsgesetz genügend Zuwendung erhalten, mehr gibt es nicht,
Punkt. Das ist natürlich eine Aussage, das kann man so nicht hinnehmen, da
muss man gegen angehen.
Pflegende Eltern sind kaum sichtbar. Wenn es um pflegende Angehörige geht,
ist es meist die Tochter, die die Mutter pflegt, oder die Schwiegertochter,
ältere Menschen werden gepflegt. In all den Vereinen, wo ich tätig bin,
habe ich gesagt: Mensch, es gibt auch Eltern, die pflegen. Das liegt auch
an den Eltern selbst, das ist nicht als Vorwurf gemeint, sondern sie sind
oftmals an ihrem Limit und haben gar keine Kraft mehr zu kämpfen oder sich
sichtbar zu machen.
Was würde die Volkswirtschaft zusammenbrechen, wenn wirklich jeder seinen
zu Pflegenden vor die Tür stellt und sagt: Hier du Staat, mach du mal,
Pflegeheim. Dann ist aus mit „Gorch Fock“ und Flugzeugträgern.
## „Das kann ich meinen Mietern nicht zumuten“
Wir wohnen hier im vierten Stock; es ist nicht so einfach, eine
barrierefreie Wohnung zu finden. Ich hatte vor einiger Zeit mal ein
Angebot, da dachte ich, Mensch, gar nicht schlecht, im Erdgeschoss mit
kleinem Garten hinten, aber der Vermieter hat mich drei Tage nach unserem
Gespräch angerufen: Nee, ich vermiete Ihnen die Wohnung doch nicht, das
kann ich meinen Mietern nicht zumuten mit einem behinderten Kind.
Es gibt so viele Sachen, ich könnte mich den ganzen Tag aufregen, aber ich
versuche, das alles mit Humor zu nehmen. Nach der OP, da nimmt man es nicht
mehr mit Humor, wenn das Kind schreit, aber ansonsten versuche ich es.
Bis auf die erbärmlichen Behördenwillkürmaßnahmen reagiert die Außenwelt
nur positiv auf Nico. Er hat vier Delfintherapien gemacht, weil wir ganz
liebe Menschen gefunden haben, die gesammelt haben. Nico ist, auch durch
seine Fröhlichkeit, ein richtiger Türöffner. Allerdings lässt das jetzt
auch langsam nach, weil er erwachsen wird, obwohl er das für mich immer
noch ist. Er hat keinen Vollbart, aber es ist ein Unterschied, ob ein
dreijähriges Kind sabbert, da sagt man, oh wie niedlich, oder ein
25-Jähriger.
Ich finde es schade, dass ich mit ihm nicht über Gott und die Welt
diskutieren kann, er erzählt mir nicht die Träume, die er nachts hat. Wir
machen viel mit Körpersprache, wenn wir so durch die Straßen gehen und er
sieht von weitem ein McDonald’s-Schild, dann klatscht er, dann weiß ich,
Junior-Tüte. Nico ist ein total interessierter Mensch und der kann die
berühmte Blume am Wegesrand, die uns manchmal verborgen bleibt, entdecken.
## „Ich trag' dich bis ans Ende der Welt“
Als er Kind war, habe ich gesagt: Alter, halt durch, ich trag’ dich bis ans
Ende der Welt. Vor drei Jahren habe ich mein Versprechen dann endlich
eingehalten, ich hab ihn zwar nicht mehr getragen, sondern geschoben, aber
das hat er durchgehen lassen und wir sind den Jakobsweg gegangen, von dem
die alten Kelten dachten, das sei das Ende der Welt. Dann habe ich ihn
allerdings wirklich getragen, die Felsen herunter.
Einmal hatten wir uns in einem Flussbett festgefahren und sofort kamen
welche angerannt, und halfen uns da raus. In Deutschland geht das nicht.
Wenn ich da mit ihm die Stufen des Bahnsteigs heruntergehe, gehen Hunderte
von Leuten an mir vorbei. Ab und zu fragt mal einer: Meist ist es ein
Ausländer oder ein Älterer.
Wir haben jetzt ein Doppeltandem, wo man nebeneinander sitzt und da heizen
wir durch den Park. Nico ist voller Energie, das ist für mich auch
anstrengend, deswegen muss ich ihm ständig irgendwelche Angebote machen.
Er versteht die Dinge im Rahmen seiner Möglichkeiten. Zum Beispiel kennt er
die Sterne, wenn ich sage, wo sind denn die Sterne, dann zeigt er nach
oben. Oder wenn ich mit seiner Mutter darüber spreche, was er wieder
ausgefressen hat, fängt er plötzlich an, schelmisch zu lachen, und dann
weiß ich, er hat das Gespräch verstanden.
## Es hinnehmen, wie es ist
Und manchmal, wenn ich ihn etwas frage, kommt gar nichts, wie bei einem
Autisten, er guckt durch mich durch. Ich weiß nicht, woran das liegt. Aber
ich habe gelernt, es hinzunehmen, wie es ist. Mich zu freuen, wenn
irgendetwas kommt.
Es gab auch Momente, da dachte man, das ist jetzt ein Durchbruch, zum
Beispiel, als er das erste Mal stand, da war er vier Jahre alt. Da dachte
ich: Jetzt rennt er los. Aber dann hat es drei oder vier Jahre gedauert,
bis er den ersten Schritt gemacht hat.
Wir haben wegen seiner Gehbehinderung einen Parkausweis, den wollte man uns
dann wegnehmen, weil in einem Arztbericht stand, dass Nico Freude am Laufen
hat. Und wer Freude am Laufen hat, braucht keinen Parkausweis mehr. Da habe
ich auch wieder Widerspruch eingelegt, ich werde da sehr pampig: Haben Sie
schon mal ein behindertes Kind gesehen, ich habe zufällig eins, ich komm
gern mal vorbei und zeig Ihnen das. Und dann hätte ich Nico auf allen
Vieren ins Büro schleichen lassen. Wir haben ihn dann gekriegt.
Das sind Sachen, die ich nicht verstehe: Das sind Menschen, die haben doch
auch Familie, die müssen sich doch in so etwas hineinversetzen können.
Nicht im Detail, die müssen nicht wissen, wie eine Windel gewechselt wird,
aber die müssen sich doch in etwa vorstellen, dass es schwierig ist.
Wenn wir an der Treppe stehen, laufen die meisten an uns vorbei, aber im
Einzelgespräch stoßen wir auf Verständnis, einige sagen: Wie schaffst du
das? Deswegen mache ich diese Wanderaktionen, das ist der Moment, wo man
sich austauscht, und gegenseitiges Verständnis aufbaut. Gerade mit
Behördenmitarbeitern, damit der mir auch seine Sorgen erzählt.
## Der Elbfenchel ist schicker
Ich habe die erste Wanderung 2008 mit Nico nach Krefeld gemacht. Ich
dachte, bei jeder Etappe haben wir 100 Mitwanderer. Das klappte natürlich
nicht. Manchmal sind wir alleine gelaufen, mal zehn, mal fünf, da kommen
welche aus der Diakonie oder der Bürgermeister mit Pressetross, besonders
zu Zeiten, wo gewählt wurde. Aber es gab auch viele tolle Gespräche. Die
Bereitschaft der Leute, etwas zu tun, war enorm, zumindest bei den
Mitwanderern. Aber die große Masse, das habe ich mir mal so gewünscht oder
vorgenommen, die große Masse zu erreichen, das klappt irgendwie nicht.
Es gab gerade im Fernsehen einen Beitrag über den Elbfenchel. Der wird
jetzt neu gepflanzt. Und die Elbvertiefung wurde zurückgestellt, weil diese
Pflanze vom Aussterben bedroht ist. Es ist ja auch toll, wenn man sich
dafür einsetzt, ich will das nicht kritisieren, ganz im Gegenteil, aber da
stimmen manchmal die Proportionen nicht.
Da liest man, dass eine alte Dame im Altenheim wegen fehlender Pflege an
ihrem Dekubitus leidet oder stundenlang in ihren Exkrementen liegt. Da
wünsche ich mir eine Demonstration vor dem Altenheim, nicht nur für den
Elbfenchel. Für den auch, ganz klar. Aber es ist irgendwie schicker, für
solche Sachen auf die Straße zu gehen.
3 Feb 2020
## LINKS
[1] http://www.nicosfarm.de/
[2] /Pflege-von-Angehoerigen/!5633815
[3] https://www.behindertenrechtskonvention.info/
[4] https://www.facebook.com/groups/812974372422021/
## AUTOREN
Friederike Gräff
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Lesestück Interview
Menschen mit Behinderung
Jens Spahn
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