# taz.de -- Ex-Sozialrichter über Ungleichheit: „Unser Sozialsystem ist unge… | |
> Eltern fordern einen Freibetrag für Sozialabgaben. Jürgen Borchert | |
> erklärt im Interview, warum das alle Menschen in Deutschland | |
> interessieren sollte. | |
Bild: Verkehrte Welt: „Je mehr jemand verdient, desto geringer ist die Beitra… | |
taz: Herr Borchert, Sie unterstützen Eltern, die einen Freibetrag bei den | |
Sozialbeiträgen fordern. Das Bundesverfassungsgericht wird sich demnächst | |
mit der Klage dazu befassen. Warum ist dieses Verfahren auch für Kinderlose | |
interessant? | |
Jürgen Borchert: Es geht um den Skandal, dass der deutsche Sozialstaat von | |
unten nach oben umverteilt. Die Reichen werden geschont, während die | |
normalen Arbeitnehmer enorm belastet werden. Diese Verteilungsfehler | |
verschärfen sich bei den Familien. | |
Wieso? | |
Eigentlich ist festgelegt, dass es ein Existenzminimum gibt, das nicht | |
durch Abzüge belastet werden darf. Bei den Einkommenssteuern gibt es | |
deswegen Freibeträge, die pro Jahr für einen Erwachsenen 9.408 Euro und für | |
ein Kind 7.812 Euro betragen. Für eine vierköpfige Familie beläuft sich | |
dieses steuerliche Existenzminimum also auf 34.440 Euro im Jahr. Bei den | |
Sozialbeiträgen gibt es aber keine Freibeträge. Schon der erste Euro wird | |
belastet. Ergebnis: Eine vierköpfige Familie mit einem Jahreseinkommen von | |
35.000 Euro brutto kommt nur auf 31.203 Euro netto – und da ist das | |
Kindergeld schon eingerechnet. Die Familie hat also 3.237 Euro weniger, als | |
ihr eigentlich zusteht, wenn man das Existenzminimum ernst nimmt. | |
Aber wenn Eltern entlastet werden, müssen Kinderlose höhere Beiträge | |
zahlen. Dies wird häufig als „Bestrafung Kinderloser“ gegeißelt. | |
Nein. Das Ziel ist, die Ungerechtigkeiten bei den Sozialabgaben zu beheben. | |
Welche sind das? | |
Unser Sozialsystem ist gleich aus fünf Gründen ungerecht. Erstens: Nur | |
Arbeitnehmer müssen Sozialabgaben zahlen. Gut verdienende Selbstständige, | |
Beamte, Richter und Abgeordnete bleiben verschont. Zweitens ist die | |
Beitragslast von knapp 40 Prozent enorm und treibt einen brutalen Keil | |
zwischen Brutto- und Nettolohn. Drittens muss man selbst für das | |
Existenzminimum Sozialabgaben zahlen. | |
Viertens ist der Beitragssatz immer gleich hoch, egal ob man 1.000 oder | |
5.000 Euro verdient. Und fünftens gibt es die Beitragsbemessungsgrenze. Wer | |
mindestens 6.900 Euro im Monat verdient, muss für jeden zusätzlichen Euro | |
nichts mehr in die Sozialkassen einzahlen. Je mehr jemand verdient, desto | |
geringer ist die Beitragslast. | |
Das Grundgesetz postuliert in Artikel 3: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz | |
gleich.“ Eigentlich müsste es doch verfassungswidrig sein, dass | |
Arbeitnehmer deutlich mehr zahlen müssen als andere Bevölkerungsgruppen. | |
Das stimmt. Aber nur theoretisch. Das Gleichheitsprinzip ist wie ein Messer | |
ohne Heft und Schneide, weil es einen großen Ermessensspielraum für den | |
Gesetzgeber gibt. Artikel 3 wird erst scharf gestellt, wenn man ihn mit | |
Artikel 6 kombiniert, in dem es heißt: „Ehe und Familie stehen unter dem | |
besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.“ | |
Der Wortlaut macht klar, dass Familien nicht benachteiligt werden dürfen. | |
Dies passiert aber gerade. Seit 1964 ist die Kinderarmut um das 16fache | |
gestiegen – obwohl sich die Geburtenzahlen halbierten. Heute [1][wächst | |
jedes vierte Kind in Armut auf]. Die Hauptursache ist die Verdoppelung der | |
Sozialbeiträge. Das Bundesverfassungsgericht muss ein Machtwort sprechen. | |
Wann rechnen Sie mit einem Urteil? | |
Bis zum 16. März 2020 hatten Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, die | |
Länder, Gewerkschaften, Arbeitgeber, Wirtschaftsinstitute und Verbände | |
Zeit, ihre Stellungnahmen einzureichen. Mit einem Urteil rechne ich ab | |
Frühjahr 2021. | |
Falls das Bundesverfassungsgericht beschließt, dass das jetzige | |
Sozialsystem mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren ist – was passiert | |
dann? | |
Es würde die Chance bestehen, eine BürgerFAIRversicherung einzuführen. | |
Millionäre, Selbstständige, Beamte und Angestellte würden alle in die | |
gleiche Kasse einzahlen – und zwar progressiv nach ihrem jeweiligen | |
Einkommen. Gleichzeitig würden die Leistungen nach Bedarf verteilt. Genau | |
das macht einen funktionierenden Sozialstaat aus, ohne den es keine | |
lebensfähige Demokratie geben kann. | |
19 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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