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# taz.de -- Kinderarmut hat viele Gesichter: „Wir müssen anders über Kinder…
> Lars Graß vom Verein Rückenwind im Bremerhavener Stadtteil Lehe ist
> genervt von der stereotypen Berichterstattung über arme Kinder.
Bild: Hausaufgaben auf dem kalten Fußboden: Ist das jetzt Armut?
Bremerhaven-Lehe an einem Montagnachmittag. Auf der Goethestraße, einer
Allee mit Kopfsteinpflaster, Bäumen und Gründerzeithäusern, an denen
teilweise der Putz abblättert, ist mehr los, als mancher verlassener
Hauseingang vermuten lässt. Es fahren kaum Autos, die meisten Menschen sind
zu Fuß unterwegs. Das lauteste Geräusch ist hier Möwengeschrei. Ein
Hauseingang kündigt an allen Fenstern an, dass hier bald ein Café entsteht.
Durch gemeinsames Engagement im Stadtteil seien einige der
Schrottimmobilien bereits restauriert worden, erzählt Lars Graß, der im
Verein „Rückenwind“ Kinder im Stadtteil betreut und auch bei den
Hausaufgaben hilft. Der Eingang zum „Rückenwind“ befindet sich an der Ecke
eines Wohnhauses. Der große Raum im Erdgeschoss inklusive Küche mit
niedrigen Arbeitsplatten ist voll mit Spielen und Bildern, die Pinnwand
übersät mit Zetteln zu den Corona-Regeln. Auf den Tischen stehen
Experimentierkästen und kleine Gläser mit Plastikspinnen. Das Thema dieser
Woche im Ferienprogramm lautet „Forschen und Experimentieren“.
taz: Herr Graß, sprechen wir genug über [1][Kinderarmut]?
Lars Graß: Ich glaube, wir müssen anders darüber sprechen und auch nicht
nur dann, wenn Studien, wie die der [2][Bertelsmann-Stiftung] rauskommen.
Das Thema ist in vielen Städten ein permanentes Problem. Kinderarmut ist
eines dieser Themen, die in den Fokus geraten und dann nach ein, zwei
Wochen wieder wegfallen – im Sinne von „Schön, dass wir drüber gesprochen
haben“.
Wie wollen sie „anders“ über das Thema sprechen?
Die Diskussion muss sachlicher werden. Wenn es um Kinderarmut geht, kommt
oft der Stadtteil Bremerhaven-Lehe. Dann wird eine Familie genommen und mit
dem Brennglas geschaut, wie schlecht es dieser Familie geht. Aus meiner
Sicht werden Familien damit nicht nur vorgeführt, sondern aus ihnen wird
ein repräsentatives Bild des Stadtteils gemacht, das so einfach nicht
stimmt. Für mich ist wichtig, dass wir sowohl als Einrichtung als auch als
Stadtteil nicht nur den Armutsstempel bekommen. Es gab hier mal einen
Besuch von Journalist:innen, bei dem die Kinder gefragt wurden, ob sie sich
arm fühlen, das hat kein einziges Kind bejaht.
Spielte dabei nicht vielleicht auch Scham eine Rolle?
Möglich, ich glaube aber auch, dass man nicht pauschalisieren darf. Arm ist
hier auch eine Definitionssache, und als sie gefragt wurden, waren die
Kinder mit ihren Freunden zusammen an einem Ort, mit dem sie eher
glückliche als unglückliche Momente verbinden. Deshalb finde ich etwa auch
den Begriff „sozial schwach“ unmöglich.
Nun sind aber die Zahlen über Kinderarmut im Stadtteil
[3][Bremerhaven-Lehe] besonders hoch, oder?
Ja, und Statistiken dürfen nicht verschwiegen werden. Trotzdem wünsche ich
mir eine differenziertere Diskussion über das Thema Armut, statt sich nur
eine Familie rauszupicken. Ich würde mir wünschen, dass mehr in den
Vordergrund gebracht wird, was eigentlich gemacht wird, um diesem Problem
entgegenzutreten. Es darf nicht vergessen werden, wie viele engagierte
Leute hier im Stadtteil Dinge bewegen und wie wichtig es ist, dass es in
Einrichtungen und Institutionen ein langfristiges Engagement gibt. Das
Wichtigste ist bei diesem Thema die soziale Teilhabe.
Was bedeutet für Sie soziale Teilhabe?
Es geht darum, Zugänge und Möglichkeiten zu schaffen. Das umfasst alles
Mögliche – Musik, Sport, oder den Besuch von Veranstaltungen. Wir haben
Kinder hier, die gerne Sport machen wollen und in der Vergangenheit
vielleicht auch schon mal damit angefangen haben, dann aber aus
unterschiedlichen Gründen nicht weitermachen. Vielleicht, weil die
finanzielle Unterstützung fehlt, oft haben solche Dinge aber auch viel mit
Zutrauen zu tun. Etwa bei den Kindern, die hier bei „Rückenwind“ Sport
machen, obwohl sie vorher kein Interesse hatten und erst dabei merken, dass
es ihnen gefällt. Ähnlich ist es beim Spielen von Instrumenten.
Aber auch Kinder, die nicht von Kinderarmut betroffen sind, haben all diese
Möglichkeiten nicht automatisch.
Wir unterscheiden nicht zwischen den Kindern, die kommen. Auch, weil wir
die Dinge nicht auf eine Art bewerten wollen, die uns nicht zusteht.
Anreize zu setzen gilt im Übrigen auch für Erwachsene, sonst verengt sich
der eigene Horizont. Es geht es auch darum, dass die Kinder sich nicht
abschotten und nur die Schule und die eigenen vier Wände sehen. Zur
Experimentierausstellung Phänomenta zu gehen oder Schlittschuhlaufen dient
dazu, Interessen zu wecken. Nicht jede:r hat außerdem Zugang zu einem
Garten, geschweige denn zu einer Werkstatt. Bei uns im Garten haben die
Kinder die Hütten zum Übernachten selbst mitgebaut.
Woran mangelt es besonders?
An den bekannten Dingen wie Geld, materiellen Sachen und der Teilhabe. Aber
es fehlen auch Modelle, um Familie und Beruf besser zu vereinbaren, damit
die Situation in den Familien gelassener ist. Ich bin kein Experte, aber
ich denke, gerade da müssen wir noch einige Schritte voran kommen.
Sie sind eine Anlaufstelle für Kinder. Haben Sie auch Kontakt zu den
Eltern?
Als ich vor fünf Jahren angefangen habe, gab es da fast keinen Kontakt. In
den letzten Jahren ist das Interesse der Eltern aber immer weiter gestiegen
und der Austausch stetig gewachsen. Mittlerweile kennen wir viele
Elternteile. Dabei geht es auch um Fragen zu Schule, Betreuung und anderen
Anlaufstellen. Wenn wir wissen, dass bei einigen eine bestimmte Sache
fehlt, etwa ein Schulranzen, versuchen wir da etwas zu vermitteln.
Besonders in letzter Zeit kamen besonders viele Fragen, die wir versuchen,
so gut wie möglich zu beantworten, die zum Teil unsere Möglichkeiten aber
auch einfach überschreiten. Entscheidend bei uns sind die
niedrigschwelligen Angebote für Kinder.
„Rückenwind“ bietet auch ein tägliches, kostenloses Abendessen an. Wie
wichtig ist das für die Kinder?
Die Frage der Versorgung ist nach wie vor existenziell, durch mehr und mehr
Ganztagsschulen hat sich die Situation da aber deutlich verbessert. Es ist
elementar, dass Schulen und Kindertagesstätten auch Essen anbieten. Das war
vor einigen Jahren noch anders, da hatten wir viele Kinder aus Schulen ohne
Essensangebot, für die das Abendessen bei uns die erste richtige Mahlzeit
des Tages war. Trotz der Verbesserung spürt man, dass es bei einigen
Familien am Ende des Monats immer noch knapp wird, denn dann sind mehr
Kinder da als Mitte des Monats.
Was bräuchte es auf struktureller Seite, um diesem Thema zu begegnen?
Ich kann nicht für die einzelnen Familien sprechen. Die Leistungen, die
Eltern bekommen, besonders die, die nicht berufstätig sind, sind aber
sicher nicht angemessen für 2020. Darüber hinaus ist es wichtig, dass
Anlaufstellen wie „Rückenwind“ mit möglichst wenig Fluktuation nachhaltig
existieren, denn die Kinder haben an diesen Orten oft Bezugspersonen. Auch
hier spielt die finanzielle Absicherung eine Rolle: Es wäre schön, sich
nicht den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, wie es weitergeht, gerade wenn
durch Corona die Spenden möglicherweise einbrechen.Wenn das Thema etwa
durch Studien wieder in den Vordergrund rückt, gibt es zwar immer einen
Aufschrei über Kinderarmut. Die Spendenbereitschaft für Institutionen und
Einrichtungen, die auf diese Mittel angewiesen sind, steigt aber höchstens
bei denen, die sich ohnehin schon für das Thema engagieren.
1 Aug 2020
## LINKS
[1] /Corona-an-Brennpunktschulen/!5700620
[2] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2020/juli/…
[3] /Einwanderer-ueber-Abstieg-von-Bremerhaven/!5640329
## AUTOREN
Teresa Wolny
## TAGS
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