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# taz.de -- Kinderarmut in Berlin: Brutal und ausgrenzend
> Schon Kinder schämen sich für die eigene Armut. Berlin bekam die Folgen
> gesellschaftlicher Umbrüche besonders stark zu spüren.
Bild: Monatliches Taschengeld oder ein Eisausflug: ein paar Euro und der große…
Heute gibt es Nudeln mit Tomatensauce, dazu ein repariertes Fahrrad,
vielleicht ein Fußballspiel mit den anderen und Erwachsene, die zuhören,
bei den Hausaufgaben helfen. Es ist ein Nachmittag in der Arche
Reinickendorf, 45 Kinder sind gekommen. In ganz Berlin betreuen die
spendenbasierten christlichen Arche-Einrichtungen täglich Hunderte Kinder
aus armen Familien. „Aber wir überprüfen nicht, ob jemand arm ist“, sagt
der Reinickendorfer Leiter Samuel Cornelius.
Die Familien erlebten überall sonst schon genug Bürokratie. Und auch viele
Kinder wuchsen auf mit dem Stigma Armut. Mit Scham. „Dagegen sind wir
angetreten“, sagt Cornelius. 161.000 Berliner Kinder leben in Familien, die
wegen zu geringer oder gar keiner Einkünfte Grundsicherung beziehen. Rund
6.500 Kinder in Wohnungslosenunterkünften sind da noch nicht mitgezählt.
Über 8.000 Kinder leben außerdem in Familien, die Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Zu der materiellen Armut kommt
Benachteiligung in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Zukunftschancen.
Um zu verstehen, wie es zu solchen Zahlen kommen konnte, lohnt es
auszuholen.
Eigentlich, sagt Igor Wolansky von der Fachgruppe Kinderarmut der
Landesarmutskonferenz und Referent für Kinder- und Jugendhilfe beim
AWO-Landesverband, fing das für die Bundesrepublik schon Ende der 1970er
Jahre an. Damals kursierte der Begriff der „neuen Armut“ an den
Universitäten: Nach dem Wirtschaftsabschwung infolge der Ölkrise gab es
Menschen, die nicht mehr aus den Sozialleistungen rauskamen. Armut
verfestigte sich, wurde oft in die nächste Generation übertragen. Die
neoliberale Weise – du musst dich nur anstrengen, dann wirst du es schaffen
–, sie funktionierte nicht mehr uneingeschränkt. Menschen wurden schlicht
abgehängt. Doch das war erst der Anfang einer Entwicklung, die sich gerade
in Berlin in der Nachwendezeit verschärfte. Und zwar mitnichten nur im
Ostteil der Stadt.
## 300.000 Arbeitsplätze gingen verloren
Das vereinte Berlin sei stärker als die neue große Bundesrepublik vom
Arbeitsplatzabbau betroffen gewesen, sagt Christian Hoßbach, Chef des
Landesverbands Berlin-Brandenburg des DGB. „Wir hatten in Ostberlin die
größten Verluste an Arbeitsplätzen in der ganzen früheren DDR, und auch
Westberlin wurde in den ersten zehn, fünfzehn Jahren nach der Wende
verglichen mit der alten Bundesrepublik ungleich härter getroffen.“ Allein
300.000 Industriearbeitsplätze gingen in der vereinten Stadt verloren. Der
Abbau der Doppelverwaltung binnen kürzester Zeit habe noch mal eine
sechsstellige Zahl an Arbeitsplätzen gekostet.
Im Westen hatte der Abbau der Industrie vielfach Einwanderer*innen
getroffen, die dort oft als ungelernte Fließbandarbeiter*innen
beschäftigt waren: „Und da sich zunächst nur sehr schlecht neue
Arbeitsmöglichkeiten ergeben haben, hat sich das natürlich verfestigt“, so
Hoßbach. Zwar habe es ein großes Angebot an staatlichen
Qualifizierungsmaßnahmen gegeben, aber diese hätten Einwander*innen häufig
nicht offengestanden, erinnert sich Safter Çınar, damals Leiter der
Ausländerberatungsstelle des DGB in Berlin: Deutschkurse waren den einst
als „Gastarbeiter*innen“ geholten Arbeitskräften nur in seltenen Fällen
angeboten worden, das Sprachproblem wurde so zum Hindernis. Der langjährige
Sprecher des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg (TBB) sieht aber noch
einen anderen Grund für den Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt von Teilen der
ausländischen Zuwander*innen: Die Wende habe nicht nur wirtschaftliche
Probleme gebracht, „sondern auch steigenden Nationalismus und Rassismus“,
so Çınar: Nicht wenige Arbeitgeber hätten Arbeits- und Ausbildungsplätze
„plötzlich lieber an die eigenen Landsleute als an Türken oder andere
migrantische Bewerber*innen“ gegeben.
In Ostberlin traf die Umwälzung auf 1,3 Millionen Menschen, „die vorher mit
Kollektivvorsorge lebten und nun im Individualismus landeten“, sagt Igor
Wolansky, der Anfang der 1990er mit obdachlosen Familien arbeitete. Das
neue System bedeutete nicht nur, dass man es plötzlich selber schaffen
musste, sich kümmern sollte. Auch die Scham darüber, dass es so viele nicht
schafften, in einem erodierenden Arbeitsumfeld und mit neuen
kapitalistischen Vorzeichen vielleicht gar nicht schaffen konnten – sie
wurde individualisiert.
## Ein Phänomen der Nachwendezeit
„Das ist eine besondere Form der sozialen Ausgrenzung“, sagt Wolansky. Sie
wurde perfektioniert in der 2005 eingeführten Hartz-IV-Gesetzgebung, die
zugleich weitere Personenkreise traf. In den Jahren danach entstanden zwar
neue Jobs, aber vielfach schlecht bezahlte Arbeit. 71.000 Berliner Kinder
leben heute in Familien, in denen die Eltern so wenig verdienen, dass sie
„aufstocken“ müssen. Auch das ist ein Phänomen der Nachwendezeit, wie
Gewerkschafter Safter Çınar betont: „Prekäre Vollzeitjobs, von denen man
nicht leben konnte, hat es in der alten BRD und der DDR nicht gegeben.“
Dass an den in der Folge der Ereignisse abgehängten Menschen auch die
Schicksale Abertausender Kinder hingen, „war bis 2010 weder in Regierungs-
noch in Wahlprogrammen ein Thema“, erinnert sich Igor Wolansky. 2010 rief
die Europäische Union das Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung aus, in
Berlin gründete sich die Landesarmutskonferenz. Seitdem gab es
Verbesserungen, sagen die Armutsexpert*innen. Die rot-rot-grüne
Landesregierung hat 2017 eine „Landeskommission zur Prävention von Kinder-
und Familienarmut“ gegründet. Aber an der grundlegenden Situation habe sich
bislang wenig geändert, so Wolansky. „Gerade Familien mit langen
Armutserfahrungen resignieren.“
Was wirklich helfen würde? Eine inklusive und soziale Politik bedeute viel
mehr Investition in Bildung, sagt Gewerkschafter Hoßbach. Gerade die, die
bislang fernab von Bildung aufwuchsen, würden viel zu selten erreicht. Es
braucht eine umfassende, aufsuchende und wohlwollende Arbeit mit den
Familien, sagt Wolansky und folgt damit den Forderungen des
Kinderschutzbundes. „Wir wären ja froh, wenn es uns nicht mehr bräuchte“,
sagt Arche-Leiter Samuel Cornelius. „Aber solange der Staat sich nicht
genug um die Kinder kümmert …“
3 Oct 2020
## AUTOREN
Manuela Heim
Alke Wierth
## TAGS
Armutsforschung
Kinder
Deutsche Einheit
Armutsbekämpfung
Wiedervereinigung
Schwerpunkt Armut
Kinderarmut
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Hartz IV
Osten
Schwerpunkt Coronavirus
Kinderarmut
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