# taz.de -- Eine Geschichte vom Geben: Weihnachten im Wimmerwald | |
> Eine schnöselige Familie, ein Pfarrer, der seine Gemeinde verflucht, und | |
> ein inkontinenter Hund. Eine sozialdarwinistische Weihnachtsgeschichte. | |
Bild: Zeit, das Tier abzugeben: Wenn der Mopsköter unter den Weihnachtsbaum ka… | |
Endlich war die Christmesse zu Ende. Der Pfarrer hatte in einem fort | |
geschrien und getobt: Wir seien alle verflucht, gottloses Gesindel; er habe | |
keinen Bock mehr, für uns Arschgeigen an Weihnachten den Larry zu machen. | |
Nun, beim allgemeinen Abschied vor der Kirche, verströmte sein Atem ein | |
seltsam süßliches Aroma. Es roch ein wenig wie die hochgiftige | |
Holzschutzfarbe, mit der der arme Herr Hunger immer unseren Gartenzaun | |
strich, um sich ein paar Cent dazuzuverdienen. | |
Durch die traut verschneiten Straßen fuhren wir zurück auf unser Gut. Die | |
Dorfleute leuchteten uns mit Kerzen Spalier. Festlich sah das aus. Wir | |
warfen ein paar Münzen aus dem Fenster. Der Pöbel balgte sich im tiefen | |
Schnee darum. | |
Unter der Edeltanne im Bescherungssaal packten wir routiniert unsere vielen | |
Geschenke aus. Aber eine Sensation war diesmal doch dabei: Meine Schwester | |
Erika bekam einen echten Mopsköter. Sie nannte ihn Harald. Sabbernd und | |
stinkend lauerte er unter dem Weihnachtsbaum, ein Ausbund an Arglist und | |
Hässlichkeit. | |
Doch Erika hatte sich den Hund nun mal gewünscht, und was wir uns | |
wünschten, bekamen wir auch, logisch, wir waren krass reich – das zu sagen | |
war ja keine Schande. Unsere Familie hatte sich alles ehrlich erarbeitet: | |
In den 1930er Jahren hatten unsere Mütter und Väter mit viel Fleiß | |
[1][zufällig frei werdende Privatvermögen] ergattert und geschickt | |
vermehrt. Zu Hause war jedenfalls stets Patte satt. Deshalb war Weihnachten | |
bei uns auch immer ganz besonders schön. | |
## Der Mopsköter hatte die Geschenke zerkaut | |
Nach der Bescherung aßen wir noch geschwind einen Hirsch, bevor wir im | |
Kindertrakt in unsere goldenen Bettchen schlüpften und im Nu | |
wegschlummerten. Morgen würde ein anstrengender, aber auch schöner Tag | |
werden, denn der erste Weihnachtstag war traditionell der Mildtätigkeit | |
gewidmet. Da beschenkten wir immer die bitterarme Familie Hunger, die im | |
nahegelegenen Wimmerwald hauste. | |
Als wir uns am nächsten Morgen hinunter zum Weihnachtsfrühstück begaben, | |
war der Mopsköter schon auf. Er hatte vor den Kamin geschissen, die meisten | |
der Geschenke zerkaut und in winzige Fetzen zerrissen. Das war zwar nicht | |
weiter tragisch – wir bekamen einfach neue Geschenke –, aber ein bisschen | |
nervte es schon, alleine aus Prinzip. | |
Das Frühstück entschädigte für vieles: Lachsröllchen und Crêpes mit | |
Ahornsirup und frischen Waldbeeren (Herkunftsland: Peru). Riesige | |
geräucherte Schinken, gebratene Bio-Eier und gequirlter Quark vom Okapi | |
rundeten das Ganze trefflich ab. Wer gut schläft, soll auch gut essen. | |
Anschließend packten wir den Tinnef für die Armen zusammen. Also zum einen, | |
was wir halt vom Frühstück nicht mochten: den kalten Rosenkohlsalat oder | |
die ausgepressten Zitronenschnitze, deren Saft wir auf die Hummerhäppchen | |
geträufelt hatten; dazu unter anderem noch alte Reitklamotten, Segelzeug | |
und das Trimm-dich-Gerät, das im Billardkeller eh bloß gestört hatte. Die | |
Dienstboten luden die Sachen hinten in die Autos, und dann ging es los. | |
Wir fuhren in fünf Limousinen mit getönten Scheiben Kolonne. Heißa, das | |
machte Spaß, vor allem, je näher wir der Hütte der armen Leute kamen. Auf | |
den am Ende unbefestigten Wegen konnte der Allrad endlich zeigen, was er | |
draufhatte. Unter dem Schnurren eines Kätzchens entfaltete sich die Kraft | |
eines Tigers. Dynamik paarte sich mit Fahrkomfort, Leistung mit gediegenem | |
Understatement. | |
Um ein Haar wären wir an der Kate der Penner vorbeigesaust, doch dann gab | |
es einen leichten Ruck: Vermutlich hatten wir ein Tier überfahren, das dumm | |
im Weg herumgestanden hatte. Der Fahrer hielt an, um nachzusehen. Da | |
erblickten wir auch schon den Verschlag der Familie Hunger geduckt zwischen | |
den weißbestäubten Koniferen liegen. | |
## Die Familie Hunger jubelte artig | |
Wir saßen ab. Klopfen mussten wir nicht. Die Ritzen ihrer Bretterbude waren | |
so breit, dass sie uns auch ohne Fenster kommen gesehen hatten. Und, siehe | |
da, schon hielten die Loser vor der Tür Aufstellung: der gelbgesichtige | |
Herr Hunger – man munkelte von einem lösungsmittelbedingten Leberschaden –, | |
Frau Hunger, die im längst chronisch gewordenen Kindbettfieber vor sich hin | |
shakte, und daneben wie die Orgelpfeifen aufgereiht ihre zwölf Kinder. | |
Sie jubelten artig. Wir schleppten unseren Junk hinein. Das gab wie in | |
jedem Jahr ein kleines Hallo. Hätte man es nicht instinktiv besser gewusst, | |
hätte man fast meinen können, dass sie sich gar nicht richtig freuten, so | |
unschlüssig, wie sie die kaputten Golfschläger in den Händen wogen und die | |
Näschen schnuppernd über die Muschelsuppe von vorgestern hielten. | |
In diesem Moment kam einer unserer Fahrer herein, etwas verwunderlich, weil | |
die Chauffeure gewöhnlich bei laufenden Motoren in ihren warmen Autos | |
warteten. Die Abgase tauchten den winterlichen Wald dann in einen | |
zaubrigen, blauen Nebel. Ich mochte das. Es duftete nach Geheimnis, | |
Weihnachten und Super Plus. „Ich hab hier unter dem Auto noch ein Halsband | |
gefunden“, sagte er und schwenkte ein blutiges Teil aus Leder. | |
„Wuffi?“, fragte das jüngste Mädchen der Hungers. Sie war vielleicht | |
anderthalb Jahre alt und trotzdem offenbar die Klügste. Doch nun fiel auch | |
bei den anderen der Groschen, was zu einem kompletten Meltdown führte: | |
Alle heulten los, als wäre der DAX ins Bodenlose gestürzt. Das war die | |
einzige Gelegenheit, zu der ich Vater einmal hatte weinen sehen. Ich musste | |
schlucken. Das war jetzt irgendwie schon ziemlich schlimm. Real Life | |
geradezu. Doch Mutter hatte alles im Griff. „Gibt es hier vielleicht ein | |
Zimmer, in dem wir ungestört reden können? Am besten einen Konferenzraum | |
oder so?“ | |
## Die Schattenseiten des Reichtums | |
„Wir haben nur dieses Zimmer sowie eine kleine Kammer, in der acht der | |
Kinder schlafen“, sagte die arme Frau Hunger. „Dann würde ich Sie jetzt | |
alle mal kurz an die frische Luft bitten. Ich muss allein mit meinen | |
Kindern reden“, ordnete Mutter an. „Es dauert nicht lang“, fügte sie str… | |
hinzu, als die Armen anfingen, sich umständlich mit alten Zeitungen gegen | |
die eisige Kälte zu wappnen. | |
Als die Grattler endlich draußen waren, nahm Mutter uns beiseite. Ihr Blick | |
war ernst. „Kinder“, sprach sie, „ihr seid nun alt genug, um die | |
Schattenseiten des Reichtums kennenzulernen: gesellschaftliche | |
Verantwortung, Welfare, Charity. Die haben zwar auf ihren Hund nicht | |
aufgepasst, trotzdem werden wir das kompensieren. Wir geben ihnen Harald. | |
Das ist Nächstenliebe.“ | |
Nanu? Die Alte quatschte auf einmal wie eine gottverdammte Kommunistin. Ich | |
blickte zum Mopsköter hinüber, der auf die Strohsäcke in der Stubenecke | |
pinkelte. Mit seinem lächerlichen Stummelschwänzchen wedelnd, als erwartete | |
er Lob für seine Glanztat, kam er nun zu uns herübergewatschelt und fickte | |
Vater ins Knie. Von diesem Kraftakt erschöpft, legte er sich auf den Rücken | |
und kackte. | |
Ein Transfer des garstigen Untiers wäre kein Verlust. Doch Erika maulte. | |
Auch sie besaß Prinzipien. Fast eine Stunde lang verhandelten wir hart, und | |
erst als Vater seufzend versprach, noch drei Ponys draufzulegen, war meine | |
Schwester zufrieden. Wir riefen die Armen wieder zurück in ihr Haus, damit | |
sie sich aufwärmen konnten. | |
## Als lehrte man einen Affen Canasta | |
Es war auch höchste Zeit. Ihr [2][Zustand war beschämend]. Trotz des | |
festlichen Tages konnte Mutter ihre Empörung nicht verbergen: „Pfui! Sehen | |
Sie bloß: Die Kinder fiebern ja!“, fuhr sie die Hungerin an. „Das ganze | |
Jahr über viel Bewegung an der frischen Luft – das ist wichtig, um | |
Krankheiten vorzubeugen! Sie schummelte. Im Winter gingen wir fast wie nie | |
vor die Tür. Viel zu kalt. Dafür flogen wir im Januar immer auf die | |
Malediven. Da waren wir den ganzen Tag im Freien und wurden knackig braun | |
und gesund. Nachahmenswert eigentlich, doch einem bildungsfernen Milieu | |
gesundheitsbewusstes Verhalten beizubiegen war, als lehrte man einen Affen | |
Canasta. | |
Generös regelten wir mit den Hungers unsere Auslagen für Futter und | |
Impfkosten: Es genügte, wenn Herr Hunger den Zaun das nächste Mal für lau | |
strich. Der Anblick der beim Abschied vor Glück weinenden Familie war für | |
mich immer das Schönste an Weihnachten. Die Geschenke und das Essen waren | |
nicht wichtig. Jener edlen Empfindung von damals versuche ich heute jedes | |
Mal nachzuspüren, wenn ich zehn Euro für die FFF, die „fremdverschuldet | |
verarmten Freunde der FDP“, spende. Doch es ist leider nie mehr das gleiche | |
Gefühl wie früher. | |
23 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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