# taz.de -- Kampf um den CDU-Vorsitz: Der Flüchtling ist schuld | |
> Armutsbekämpfung à la Friedrich Merz? Bitte nicht. Der Kandidat für den | |
> CDU-Vorsitz gibt einen Einblick in eine Gedankenwelt, die Angst macht. | |
Bild: Friedrich Merz im September bei einem Treffen der Jungen Union | |
Armut ist im reichen Deutschland ein wachsendes Problem. Jeder sechste | |
Bürger lebte 2019 an der Armutsgrenze, rechnete das Statistische Bundesamt | |
im Sommer vor. Der Armutsforscher [1][Christoph Butterwegge] war sich | |
sicher: „Das ist der höchste Wert seit der Wiedervereinigung.“ Rund 2,8 | |
Millionen Kinder und Jugendliche wachsen laut der Bertelsmann Stiftung in | |
Armut auf. Die Stiftung bezeichnete den Kampf gegen Kinderarmut als „eine | |
der größten gesellschaftlichen Herausforderungen“. | |
Sie tut das nicht ohne Grund, die zerstörerische Wirkung von Armut ist | |
durch Studien bestens belegt. Arme Menschen sterben früher und sind öfter | |
krank, sie haben ein mehrfach erhöhtes Risiko, an Diabetes oder Krebs zu | |
erkranken, einen Herzinfarkt zu erleiden oder einen Schlaganfall. Armut | |
demütigt und setzt Menschen unter enormen Stress, sie prägt ein Leben lang. | |
Hält die alte gebrauchte Waschmaschine durch? Wie bezahle ich ein | |
Geburtstagsgeschenk für die Sechsjährige? Wie erkläre ich ihr, dass sie | |
nicht mal eben ein Eis bekommt wie andere Kinder? Solche Fragen stellen | |
sich für arme Menschen täglich. | |
Schalten wir deshalb aus gegebenem Anlass zu Friedrich Merz, dem Mann, der | |
Vorsitzender der wichtigsten Regierungspartei in Deutschland und der | |
nächste Bundeskanzler werden will. Was würde er tun, um die Schere zwischen | |
Arm und Reich zu verkleinern? | |
Als er dies am Montag [2][bei einem CDU-Talk der Bewerber um den | |
Parteivorsitz gefragt wurde], antwortete er mit ein paar denkwürdigen | |
Sätzen: „Man muss allerdings auch mal sagen, wenn wir die Zuwanderung in | |
den Jahren 2015 und 2016 in die Sozialsysteme nicht gehabt hätten, hätten | |
wir heute in Deutschland eine Million Hartz-IV-Empfänger weniger.“ Das, | |
schob er nach, gehöre zum vollständigen Bild der Debatte dazu und werde | |
„leider häufig genug unterschlagen“. | |
## Verlogene Verbindung | |
Tja, wo fängt man an? Unterschlagen wird dieser brillante Gedanke ja | |
keineswegs, stattdessen wird er seit 2015 in allen flüchtlingspolitischen | |
Debatten bis zum Erbrechen durchgehechelt. Merz unterstellt: Die | |
Flüchtlinge sind schuld, dass weniger Geld für arme Deutsche bleibt. Diese | |
gedankliche Verbindung ist gleich auf mehreren Ebenen perfide. Sie schiebt | |
implizit Angela Merkel die Verantwortung zu, weil sie die Geflüchteten ins | |
Land gelassen hat. Sie ist verlogen, weil ein Friedrich Merz natürlich auch | |
ohne einen einzigen Flüchtling nicht für höhere Hartz-IV-Regelsätze | |
plädieren würde. | |
Vor allem aber greift er auf eine bei Rechtsextremen beliebte Figur zurück. | |
„Keine Einwanderung in die Sozialsysteme“ ist ein Klassiker der AfD, der | |
die Motive Geflüchteter über einen billigen Leisten schlägt. SyrerInnen | |
fliehen in ihrer Denkwelt nicht vor Assads Fassbomben, sie sind auch nicht | |
bereit zu arbeiten oder das Beste für ihre Kinder erreichen zu wollen. | |
Nein, sie kommen, um es sich auf der deutschen Couch gemütlich zu machen. | |
Diese Assoziation lässt Merz zu. | |
Auch sein zweiter Einfall zur Armutsbekämpfung war wenig hilfreich. Die | |
Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank werde Auswirkungen auf die | |
Ersparnisse haben, sagte er zu der freundlichen Moderatorin. „Wenn Sie | |
keine Zinsen mehr kriegen, können Sie kaum noch sparen.“ Na klar, die | |
Nullzinsen sind das Problem! Dass arme Menschen in der Regel keinen Cent | |
sparen und all ihr Geld sofort wieder in den Konsum stecken müssen, ist in | |
Merz’ Welt offenbar undenkbar. So stellt man sich die Probleme des Landes | |
vor, wenn man im Privatflugzeug darüberfliegt. | |
Merz’ Antworten liegen auch deshalb so grotesk daneben, weil sie die | |
politische Verantwortung negieren. Die CDU stellt seit 15 Jahren die | |
Kanzlerin, sie führt also seit gut eineinhalb Jahrzehnten jede | |
Bundesregierung an. Ihre Politik lässt sich grob so zusammenfassen, dass | |
sie privilegierte Gruppen materiell bedenkt und schützt, sich aber | |
verlässlich gegen Verbesserungen für arme Menschen stemmt. Höhere | |
Erbschaftsteuer? Niemals. Vermögensteuer? Sozialismus. Niedriger | |
Mindestlohn? Yeah. Erhöhung der Hartz-IV-Sätze? Okay, 14 Euro, aber nur, | |
weil es nicht anders geht. | |
## Ein neuer Akkord | |
Merz fügt diesem erbärmlichen Konzert nun einen neuen Akkord hinzu, indem | |
er Schwache gegen noch Schwächere ausspielt. Leider ist das keine | |
Petitesse, weil er eine reelle Chance hat, Kanzlerkandidat zu werden. Die | |
Verteilungsfrage wird sich für die nächste Regierung massiv stellen. Der | |
Staat hat Hunderte Milliarden Euro [3][für die Coronabekämpfung] | |
ausgegeben. Der Union fehlt die Coolness, die Staatsschulden einfach | |
liegen zu lassen. Sie will die Schuldenbremse einhalten, aber auch | |
Steuersenkungen für Gutverdiener. | |
Um dieses Wünsch-dir-was möglich zu machen, bleibt der Ausweg, die | |
Sozialausgaben zu kürzen. Auch deshalb sollte man sich die Sätze von | |
Friedrich Merz merken. | |
16 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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