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# taz.de -- Armutsforscher zu Folgen von Corona: Kardinalproblem Vermögensvert…
> Corona wirkt wie ein Brennglas, sagt der Armutsforscher Christoph
> Butterwegge. Das eigentliche Ungleichheitsvirus sei aber der
> Neoliberalismus.
Bild: Eine Corona-Teststation auf der A8 von München nach Stuttgart
taz: Herr Butterwegge, die zweite Coronawelle schwappt über die
Bundesrepublik. Welche sozialen Auswirkungen wird das haben?
Christoph Butterwegge: Das hängt natürlich davon ab, wie hart sie uns
trifft. Viel wird davon abhängen, ob das gesellschaftliche Leben wieder
heruntergefahren werden muss. Auf jeden Fall zeigen die Erfahrungen mit der
ersten Welle, dass die sozioökonomische Ungleichheit weiter zunehmen wird.
Woran machen Sie das fest?
Dass sich die Ungleichheit während des Lockdowns und des wirtschaftlichen
Einbruchs verschärft hat, zeigt sich auf drei Ebenen. Da ist zunächst die
gesundheitliche Ebene mit dem Infektionsgeschehen selbst: Vor dem Virus
sind zwar vordergründig alle Menschen gleich, zwischen Einkommens- und
Immunschwäche besteht aber ein Kausalzusammenhang. Arme sind einem höheren
Infektionsrisiko ausgesetzt, weil ihre Arbeitsbedingungen in aller Regel
schlechter und ihre Wohnverhältnisse hygienisch bedenklicher sind. Zudem
leiden sie vielfach unter sozialbedingten Vorerkrankungen, was das Risiko
erhöht, schwer an Covid-19 zu erkranken. Hinzu kommt die psychische
Belastung: Wer eine große Wohnung hat, übersteht eine Quarantäne viel
entspannter als eine Familie, deren Mitglieder keine eigenen Zimmer haben.
Und die zweite Ebene?
Das ist die ökonomische. Einschneidende Infektionsschutzmaßnahmen sind
erforderlich, hinterlassen aber wirtschaftliche Kollateralschäden, die
nicht alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen treffen. Vielmehr hat die
Coronakrise einige Menschen reicher und viele ärmer gemacht. Es gibt eine
soziale Polarisierung zwischen denen, die wegen Erwerbsausfalls,
Geschäftsaufgabe, Kurzarbeit oder Arbeitsplatzverlustes herbe finanzielle
Verluste erleiden, und jenen, die ein Unternehmen oder einen Arbeitsplatz
haben, dem die Rezession nichts anhaben kann. Manche Branchen wie der
Onlinehandel, Logistikfirmen und Lieferdienste haben ihre Gewinne in der
Krise ja sogar gesteigert.
Die Phase des Lockdowns im Frühjahr hat drastisch vor Augen geführt, dass
ein großer Teil der in Deutschland lebenden Menschen kaum in der Lage ist,
finanziell über die Runden zu kommen, wenn das reguläre Einkommen mal für
ein paar Wochen ausfällt. Bis tief in die Mittelschicht hinein fehlt es
schlicht an Rücklagen. Letztlich kommt es nicht auf das Einkommen, sondern
auf das Vermögen an. Es ist hierzulande besonders ungleich verteilt und
konzentriert sich bei 45 hyperreichen Familien, die mehr besitzen als die
ärmere Hälfte der Bevölkerung – über 40 Millionen Menschen. Etwa ein
Drittel der Bevölkerung hat kein nennenswertes Vermögen und ist daher nur
eine Kündigung, eine schwere Krankheit oder einen neuerlichen Lockdown von
der Armut entfernt.
Aber haben die Bundesregierung und die Landesregierungen nicht viel durch
ihre milliardenschweren Hilfsprogramme abgefedert?
Damit kommen wir zur dritten Ebene. Ich bin weit davon entfernt, die
staatlichen Hilfspakete, Rettungsschirme und Fördermaßnahmen in Gänze zu
verdammen. Vieles davon war nötig. Aber auffällig und kritikwürdig ist ihre
verteilungspolitische Schieflage. Es gibt ein deutliches Übergewicht
zugunsten der großen Unternehmen, die selbst dann unterstützt werden, wenn
das unnötig ist.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Nehmen Sie nur das Beispiel BMW. Ich bin ein Befürworter des
Kurzarbeitergeldes, weil es Massenentlassungen verhindern kann. Aber ich
halte es für einen Skandal, wenn die Bundesagentur für Arbeit durch Zahlung
von Kurzarbeitergeld einen Großteil der Lohnkosten von BMW übernimmt,
obwohl genug Geld da war, um den Aktionären eine satte Dividende von 1,64
Milliarden Euro zu zahlen. Davon hat das reichste Geschwisterpaar unseres
Landes, Susanne Klatten und Stefan Quandt, mehr als 750 Millionen Euro
eingestrichen.
Dänemark und Frankreich binden Überbrückungshilfen an die Bedingung, dass
ein Unternehmen keine Gewinne ausschüttet. Das würde ich mir für
Deutschland auch wünschen. Auf der anderen Seite wurden die am meisten
Bedürftigen von den Hilfsmaßnahmen viel zu wenig bedacht. Die Bereitschaft
des Staates zu helfen ist je nach dem sozialen Status unterschiedlich stark
ausgeprägt.
Das Parlament hat allerdings auch zwei „Sozialschutzpakete“ verabschiedet.
Die waren auch dringend nötig. Bedacht wurden Menschen, die [1][zum
Beispiel als Soloselbstständige] und Kleinunternehmer in Hartz IV fielen.
Die Jobcenter gewähren ihnen bis zum Jahresende befristet Zugang, ohne das
Vermögen sowie die Größe der Wohnung und die Miethöhe einer Prüfung zu
unterziehen. Das greift aber zu kurz. Ein weniger bürokratischer Zugang
sollte für jeden Antragsteller gelten, und zwar auf Dauer. Für höchst
problematisch halte ich, dass die am härtesten von der Pandemie betroffenen
Personengruppen höchstens am Rande berücksichtigt worden sind. Obdach- und
Wohnungslose, Geflüchtete, Migranten ohne gesicherten Aufenthaltsstatus,
Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, Suchtkranke, Prostituierte,
Erwerbslose, Geringverdienerinnen, Kleinstrentner und
Transferleistungsbezieherinnen gehören wohl kaum zu den Gewinnergruppen.
Wie hätte ihnen aus Ihrer Sicht konkret geholfen werden sollen?
Nehmen wir nur einmal Alleinerziehende und Familien im Hartz-IV-Bezug: Die
hatten größte Probleme, weil Schulen und Kitas geschlossen waren und das
kostenlose Mittagessen wegfiel, das arme Kinder dort inzwischen bekommen.
Da hätte der Staat umgehend und schnell helfen können und müssen. Warum
wurde ihnen nicht im Frühjahr [2][ein Aufschlag in Höhe von 100 Euro] pro
Monat für Lebensmittel, Schutzmasken und Desinfektionsmittel gewährt?
Inzwischen hat es immerhin einen [3][Kinderbonus von 300 Euro] pro Kind
gegeben, der nicht auf das Arbeitslosengeld II beziehungsweise das
Sozialgeld angerechnet wird.
Das hat den Betroffenen geholfen, gar keine Frage. Allerdings kommt die
Einmalzahlung des Bundes in zwei Herbst-Raten verdammt spät. Außerdem
ersetzt sie natürlich keine permanente Unterstützung. Mir kommt das eher
wie ein Ablasshandel vor, mit dem sich die Regierung von der eigentlichen
Verpflichtung zur kontinuierlichen Hilfe befreit. Fragwürdig ist überdies,
dass die Eltern aus der Mittel- und Oberschicht den Kinderbonus gleichfalls
bekommen und ihn erst mit der Steuererklärung zurückzahlen müssen.
Aber müssen Sie nicht anerkennen, dass Deutschland bislang ganz gut durch
die Krise gekommen ist?
[4][Verglichen mit anderen Ländern], in denen es viel mehr Covid-19-Tote zu
beklagen gibt, ist die Bundesrepublik [5][bisher relativ gut durch die
Pandemie gegangen]. Aber dies ändert nichts daran, dass die ohnehin
erhebliche Ungleichheit in Deutschland während der pandemischen
Ausnahmesituation weiter gewachsen ist und sich die Kluft zwischen Arm und
Reich noch mehr vertieft hat.
Für Sie ist Corona ein Ungleichheitsvirus?
Nein, das eigentliche Ungleichheitsvirus ist der Neoliberalismus. Corona
wirkt da nur als Katalysator. In der Pandemie hat sich die Ungleichheit
aufgrund der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und einer Politik
verschärft, die den „Wirtschaftsstandort“ vergöttert, Interessen der
Finanzinvestoren bedient und daher sozial polarisierend statt egalisierend
wirkt. Das Kardinalproblem unserer Gesellschaft ist die bestehende
Verteilungsschieflage.
Können Sie das konkretisieren?
Nach den Kriterien der Europäischen Union sind heute 13,3 Millionen
Menschen in Deutschland arm oder zumindest armutsgefährdet – ein
Rekordwert. Sie haben weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur
Verfügung – das sind für einen Alleinstehenden 1.074 Euro monatlich.
Gleichzeitig entfallen laut einer [6][aktuellen Studie des Deutschen
Instituts für Wirtschaftsforschung] inzwischen 67 Prozent des
Nettogesamtvermögens auf das oberste Zehntel, 35 Prozent konzentrieren sich
auf das reichste Prozent der Bevölkerung und das reichste Promille kommt
immer noch auf 20 Prozent.
Das bedeutet, dass sogar unter den Reichen selbst sich der Großteil des
Vermögens bei den Hyperreichen zusammenballt. Der reichste Mann der
Bundesrepublik, Dieter Schwarz, Eigentümer von Lidl und Kaufland, besaß vor
der Pandemie schon 41,5 Milliarden Euro an Privatvermögen. Das hat sich
jetzt noch mal um 300 Millionen Euro vermehrt.
Als Konsequenz nicht nur aus der gegenwärtigen Coronakrise fordern Sie
[7][in Ihrem neuen Buch], „das kapitalistische Wirtschafts- und
Gesellschaftssystem“ müsse grundlegend verändert“ werden. Das klingt
ziemlich weit weg von der gesellschaftlichen Realität.
Man muss kein Marxist sein, um zu erkennen, dass Deutschland eine
Klassengesellschaft mit wachsender sozioökonomischer Ungleichheit ist,
deren Hauptgrund im fortbestehenden Interessengegensatz zwischen Kapital
und Arbeit besteht. Wer Armut wirksam bekämpfen will, muss den privaten
Reichtum antasten. Der pandemische Ausnahmezustand hat den Wert der
Solidarität vielen Menschen wieder vor Augen geführt. Sie merken, dass
ihnen die Fixierung auf den Markt und die Konkurrenz in einer solchen
Situation wenig nützt. Dazu zählt auch die Erkenntnis, dass eine weitere
Ökonomisierung, Finanzialisierung und Privatisierung vor allem des
Gesundheitswesens ein Irrweg wäre.
Skepsis gegenüber den Verheißungen des Neoliberalismus ist die
Grundvoraussetzung für ein kritisches Gesellschaftsbewusstsein. Das ist
ebenso positiv wie die Erkenntnis, welche beruflichen Tätigkeiten
„systemrelevant“ sind – allerdings nicht entsprechend gut bezahlt werden.
Ob es um einen ordentlichen Tariflohn geht, um eine Anhebung des
Mindestlohns auf mindestens 12 Euro, um die Einführung einer solidarischen
Bürgerversicherung oder um eine Kurskorrektur in der Steuerpolitik – es
bleibt noch viel zu tun, wenn sich die Kluft zwischen Arm und Reich nicht
weiter vertiefen soll.
Sie gelten [8][als bekanntester Armutsforscher Deutschlands]. Seit
Jahrzehnten analysieren Sie nun schon das bestehende Elend. Hat Sie das
nicht zu einem zutiefst frustrierten Menschen gemacht?
Nein, keineswegs. Denn ich beschäftige mich zwar mit der Armut, ihren
Ursachen und Erscheinungsformen, aber auch mit dem riesigen Reichtum. Die
kritische Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung kann entmutigen.
Trotzdem ist mein Wille ungebrochen, die bestehenden Verhältnisse in
Richtung von mehr sozialer Gerechtigkeit zu verändern. Davon lasse ich mich
auch durch manche Rückschläge und Rechtstendenzen nicht abbringen.
22 Oct 2020
## LINKS
[1] /Solo-Selbststaendige-in-Coronakrise/!5693635
[2] /Experte-ueber-das-Sozialschutzpaket-II/!5685787
[3] /Konjunkturpaket-in-der-Coronakrise/!5693206
[4] https://coronavirus.jhu.edu/map.html
[5] https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4
[6] https://www.diw.de/de/diw_01.c.793891.de/vermoegenskonzentration_in_deutsch…
[7] https://shop.papyrossa.de/epages/26606d05-ee0e-4961-b7af-7c5ca222edb7.sf/de…
[8] /taz-meinland-Praesidentschaftskandidat/!5378257
## AUTOREN
Pascal Beucker
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