# taz.de -- Nachruf auf den Soziologen Ulf Kadritzke: Schreiben über die Klass… | |
> Ulf Kadritzke hinterfragte, warum soziale Ungleichheit in Deutschland | |
> kaum wahrgenommen wird. Der Soziologe starb im Alter von 77 Jahren. | |
Bild: Ulf Kadritzke auf einer Veranstaltung der Hochschule für Wirtschaft und … | |
Ulf Kadritzke war ein besonderer Soziologe: Er dachte marxistisch, ohne | |
Marxist zu sein. Er beschrieb akribisch, dass Deutschland [1][eine | |
Klassengesellschaft ist] – aber diese brutale Realität kaum sichtbar wird, | |
weil die Angestellten an ihren eigenen Aufstieg glauben. Die | |
[2][Ungleichheit ist eklatant], und dennoch wähnt sich fast die gesamte | |
Gesellschaft in der „Mitte“. | |
Kadritzkes Arbeiten spiegeln auch die eigene Herkunft. 1943 wurde er in | |
Rosenberg in Westpreußen geboren; der Vater war Nationalsozialist und | |
Offizier im Reichsarbeitsdienst. Die Flucht vor der Roten Armee endete | |
schließlich im Remstal bei Stuttgart. | |
Als Kind musste sich Ulf von den Einheimischen immer wieder anhören: „Geht | |
doch zurück, wo ihr hergekommen seid.“ Er war fremd in der einzigen Heimat, | |
die er kannte. „Wir wollten unbedingt Schwaben werden“, erinnert sich sein | |
Zwillingsbruder Niels, der später Journalist wurde. | |
Als Ulf elf Jahre alt war, starb der Vater an Krebs; die Mutter musste ihre | |
vier Kinder allein durchbringen. Die Nachbarn erwarteten, dass die | |
Kadritzke-Söhne wie alle Remstaler „beim Daimler schaffen“ würden. Doch d… | |
Mutter, eine Lehrerstochter, schickte ihre Kinder aufs Gymnasium. | |
## Bei Demos immer in Turnschuhen | |
Schon in der Pubertät wurde Ulf rebellisch und trat mit 16 Jahren in die | |
SPD ein. Für den Abituraufsatz wählte er das Thema: „Äußern Sie sich zu d… | |
These ‚Eigentum ist Diebstahl‘.“ Anschließend wechselte er sofort an die… | |
Berlin, um Soziologie zu studieren – und wurde zu einem Wortführer der | |
Studentenproteste. | |
Ulf gehörte dem Sozialdemokratischen Hochschulbund an, der mondän im | |
Villenviertel Zehlendorf residierte. Der Spiegel berichtete 1967 süffisant, | |
dass die Monatsmiete für das Protestquartier 400 D-Mark betrug – damals | |
eine üppige Summe. In diesem luxuriösen Ambiente wurde dann die | |
„grundlegende Veränderung der Gesellschaftsordnung“ diskutiert. | |
Die Brüder Kadritzke waren bei allen großen Demonstrationen dabei, gegen | |
den persischen Schah, gegen den Vietnamkrieg und gegen die griechische | |
Junta. „Immer mit Turnschuhen“, wie Niels berichtet, „weil man dann | |
schneller war als die prügelnden Polizisten.“ | |
## Freude an der Kontroverse | |
Doch schon bald zog es Ulf in die Wissenschaft. Seine Dissertation | |
„Angestellte – Die geduldigen Arbeiter“ machte ihn sofort bekannt. Es | |
folgte eine Station am Soziologischen Forschungsinstitut in Göttingen, und | |
ab 1976 war er Professor an der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin, | |
die später in der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) aufging. | |
Ulf Kadritzke hatte die Begabung, auch Andersdenkende für sich einzunehmen. | |
Er war stets bester Laune, immer herzlich und ein begnadeter Netzwerker. | |
Dieses Talent nutzte er nach seiner Emeritierung, um an der HWR ein | |
interdisziplinäres Studium generale aufzubauen und so gegensätzliche Gäste | |
wie ifo-Chef Sinn und DGB-Vizin Engelen-Kefer einzuladen. | |
Gleichzeitig forschte er weiter. 2017 erschien sein Buch „Mythos ‚Mitte‘. | |
Oder: Die Entsorgung der Klassenfrage“, das auch für Laien verständlich | |
ist. Am Samstag ist Ulf Kadritzke an einem Herzinfarkt gestorben. Er | |
hinterlässt seine Frau und einen Sohn. | |
17 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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