# taz.de -- Gesprächsreihe „Let's talk about class“: Keine andere Wahl | |
> Der soziale Aufstieg hat einen hohen Preis. Darum ging es bei der letzten | |
> Folge der Veranstaltungsreihe „Let's talk about class“ im Berliner Acud. | |
Bild: Auch Designermöbel können ausgrenzend und trennend wirken | |
Diskriminierung sei ein Begriff, in dem wir etwas verstecken. Was wir | |
verstecken, sei Schmerz, Leid, Sprachlosigkeit, Einsamkeit und Trauer, sagt | |
der Schriftsteller [1][Senthuran Varatharajah]. Er spricht als jemand, der | |
den Auftrag des sozialen Aufstiegs erfüllt hat, den ihm seine Eltern | |
auferlegt haben. Seine Eltern kamen als Geflüchtete nach Deutschland, um in | |
der Fabrik und als Putzfrau zu arbeiten. | |
Wie er den Begriff des Aufstiegs finde, wird Varatharajah gefragt, als ob | |
das eine Rolle spielen würde. Er antwortet: „Es war von Anfang an gar nicht | |
meine Entscheidung, es war der Imperativ meiner Eltern.“ Und: „Es gab keine | |
Wahl.“ Obwohl er dem Auftrag nachgekommen ist und heute eine erfolgreiche | |
Aufstiegsgeschichte erzählen kann, ist längst noch nicht alles gut: Von der | |
Perspektive der Eltern aus gesehen sei seine Geschichte eine | |
Erfolgsgeschichte, von seiner Perspektive aus jedoch eine traurige | |
Geschichte. | |
Es geht um Trauer über das, was die Eltern durchgemacht haben, über die | |
Entfremdung von ihnen, die mit dem Aufstieg einhergeht, über die | |
Schwierigkeit, sich dann noch zu verständigen. | |
## Klassismus als Diskriminierung | |
Darüber gesprochen hat Varatharajah bei der fünften Folge der Reihe „Let's | |
talk about class: über Wege aus dem Klassenkrampf“, die vergangenen | |
Donnerstagabend vom Berliner Kunst- und Veranstaltungshaus Acud gestreamt | |
wurde. Auch die Autorin Elisa Aseva und der Coach Bettina Andrae haben laut | |
darüber nachgedacht, welche Unterschiede Klasse macht. [2][Daniela | |
Dröscher] und Michael Ebmeyer moderierten das Gespräch, das begleitet wurde | |
von kurzen Lesungen. | |
Soziale Ungleichheit und Klasse sind auch so Begriffe, mit denen man etwas | |
verstecken könnte. Sie klingen kalt und analytisch. Für das Verständnis der | |
kapitalistischen Gesellschaft sind sie jedoch unerlässlich. Denn solche | |
Begriffe mögen die mannigfaltige Realität zwar in ihr enges Korsett | |
zwingen, aber mit ihnen lässt sich auch auf diese Realität einwirken. | |
Bettina Andrae hat für die Berliner SPD einen Antrag geschrieben, in dem | |
sie fordert, dass das Phänomen des Klassismus als Diskriminierungskategorie | |
in die Landesgesetze aufgenommen wird. | |
„Es ergibt sich ein endloser Kreislauf, der bestimmte Gruppen vom Zugang zu | |
basalen Möglichkeiten des gesellschaftlichen Fortkommens ausschließen kann | |
und später den Status auf vielen Gebieten bestimmt“, liest sie daraus vor. | |
Als Coach arbeitet sie auch mit Erstakademiker:innen, berichtet von deren | |
Unsicherheit, von großen Potentzalen, erfolgreichen Laufbahnen, aber auch | |
Angst, doch nicht gut genug zu sein. Deshalb versteht Andrae das Problem | |
als eines von Selbst- und Fremdwahrnehmung, Stigma und Ausgrenzung, und sie | |
fordert Aufklärungsarbeit sowie Sensibilisierung. | |
## Feine Unterschiede | |
„Es ist für mich seltsam, über Klassismus zu reden, ohne über Kapitalismus | |
zu reden“, sagt die Autorin Elisa Aseva dagegen und widerspricht der Idee, | |
dass es hier allein um ein Problem der Vorurteile und der Borniertheit | |
gehe. Die „ungelernte Arbeiterin“, wie sie sich vorstellt, veröffentlicht | |
ihre Texte, ihre „Abschöpfprodukte des Alltags“, auf Facebook. Auch Asevas | |
Mutter kam als Geflüchtete nach Deutschland. | |
Weil sie krank war, verbrachte die Autorin ihre ersten Lebensjahre in einem | |
Kinderheim, wo eine Nonne aus bäuerlichen Verhältnissen die Lücke gefüllt | |
hat. Auch von einer dritten Frau erzählt Aseva, eine deutsch-jüdische, | |
bildungsbürgerliche und wohlhabende Flüchtlingshelferin, die sie heute Oma | |
nennt. Während die drei Frauen Gemeinsamkeiten haben – alle haben etwa | |
einen Krieg erlebt –, trennt sie eine wesentliche Sache: ihre Klasse. | |
Die schmerzhafte Distanz, die Varatharajah zwischen sich und seinen Eltern | |
erlebt, erlebte Aseva deshalb zwischen ihren drei wichtigsten | |
Bezugspersonen; weil der Klassenunterschied eben nicht nur einer der | |
ungleichen Verteilung von materiellen Ressourcen ist, sondern auch einer | |
von divergierenden Lebenskonzepten, von feinen Unterschieden, wie es der | |
[3][Soziologe Pierre Bourdieu] sagen würde. | |
## Stühle vom Sperrmüll | |
Varatharajah erzählt, dass seine Eltern bei einem Besuch irritiert auf die | |
Einrichtung seiner Wohnung reagiert hätten. Er erzählt von einem teuren | |
Stuhl, den er gekauft habe, quasi ein Symbol für die Kluft zwischen ihm und | |
seinen Eltern. Wenn er diesen Stuhl heute anschaue, sehe er die Stühle, die | |
sein Vater früher vom Sperrmüll aufgesammelt habe. | |
Vielleicht sind es auch Erinnerungen wie diese, die Aseva und Varatharajah | |
gegen Ende des Gesprächs dazu bewegen, über Sensibilisierung und | |
Aufklärungsarbeit hinauszugehen und den materiellen Kern der Sache zu | |
benennen, über Kapitalismus und Klassenkampf zu sprechen. | |
9 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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