# taz.de -- Literatur jenseits des Heimat-Begriffs: Jedes Wort und jede Silbe | |
> Beim Literaturfestival LIT:potsdam sprach Sasha Marianna Salzmann mit | |
> Senthuran Varatharajah über Herkunft und Sprache. | |
Bild: Senthuran Varatharajah und Sasha Marianna Salzmann mit Moderator Uwe-Kars… | |
Ob die Macher des Brandenburger Literaturfestivals LIT:potsdam wissen, dass | |
„lit“ auf Internetdeutsch so viel wie „toll“ bedeutet? Uwe-Karsten Heye, | |
der Moderator der Lesung und Gesprächsrunde zum Thema „Herkunft und | |
Ankunft“ am Samstag in der Stadt- und Landesbibliothek Potsdam, weiß es | |
wahrscheinlich nicht. Dass das Internet ihm fremd ist, gibt der ehemalige | |
Regierungssprecher zu, als er davon erzählt, seine Frau gebeten zu haben, | |
die Namen seiner Gesprächspartner*innen Senthuran Varatharajah und Sasha | |
Marianna Salzmann zu googeln. | |
Internet-Kenntnisse muss man von einem 76-Jährigen nicht erwarten, | |
schwierig wird es aber, wenn er sich mit Literatur befassen soll, die im | |
Internet verortet ist, wie Senthuran Varatharajahs preisgekrönter | |
Debütroman „Vor der Zunahme der Zeichen“. | |
1984 in Sri Lanka geboren, kam Varatharajah als Säugling mit seiner Familie | |
auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland. Er studierte | |
Theologie, Philosophie und Kulturwissenschaft in Marburg, Berlin und | |
London. 2014 gewann der damals 30-Jährige einen Nebenpreis beim | |
Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, ohne zuvor etwas veröffentlicht zu | |
haben. Zwei Jahre später entstand daraus „Vor der Zunahme der Zeichen“. | |
Dieser moderne Briefroman erzählt vom Austausch zweier Geflüchteter auf | |
Facebook. Sein Autor bedient sich einer kargen, theoretischen Sprache, die | |
mehr einem philosophischen Diskurs als einem Chat unter Jugendlichen | |
gleicht, und bricht mehrfach mit sprachlichen Formen. | |
## Heimatland und Muttersprache | |
Varatharajahs Gesprächspartnerin ist die 1985 in Wolgograd geborene Sasha | |
Marianna Salzmann. Sie sprang spontan für Olga Grjasnowa ein, die ihr | |
zweites Kind zur Welt brachte. Salzmann ist Mitbegründerin des | |
Kulturmagazins Freitext und derzeit Hausautorin am Maxim Gorki Theater in | |
Berlin. Im September erscheint ihr Debütroman „Außer sich“, der sich mit | |
Zugehörigkeit fernab von konventionellen Zuschreibungen wie Heimatland, | |
Muttersprache oder Geschlecht auseinandersetzt. | |
Der Autorin, die Roland Barthes zum Frühstück liest, könnte man ewig | |
zuhören. Nicht nur beim Lesen, sondern auch beim Sprechen über Vertrauen | |
und Misstrauen in Sprache und darüber, wie sie immer auch Spiegel | |
gesellschaftlicher Verhältnisse ist. Ein Beispiel, wie sich | |
kolonialistische Unterdrückung in Sprache manifestieren kann, zeigt eine | |
Anekdote aus Varatharajahs Kindheit: Bis zur ersten Englischstunde dachte | |
er, dass „car“, „plane“ oder „table“ tamilische Wörter seien – s… | |
die Sprache Sri Lankas von seiner einstigen Kolonialmacht geprägt. „Sprache | |
gehört niemandem“, sagt der Autor. | |
## Zu viel gesagt | |
Der kontinuierlichen Entwicklung und Veränderlichkeit von Sprache, auch im | |
digitalen Kontext, stehen Salzmann und Varatharajah positiv gegenüber, auch | |
wenn sie sich selbst für eine Analyse der Jugendsprache und ihrer | |
Plattformen schon etwas zu alt fühlen. Da geht ein Raunen durchs Potsdamer | |
Publikum. | |
Es entwickelt sich ein kluger Diskurs mit erstaunlicher Eigendynamik. Auch | |
der Moderator erkennt das und verzichtet auf ein müdes Frage-Antwort-Spiel. | |
Auch zum Thema „Herkunft und Ankunft“ ist vielleicht schon zu viel gesagt | |
worden. So haben viele junge Autor*innen mit Migrationshintergrund etwas | |
gemeinsam: Sie halten den Heimat-Begriff für romantisch verklärt. | |
## Nicht mit Deutsch | |
Wenn sie sich irgendwo verorten lassen wollen, dann in der Literatur. | |
Varatharajah und Salzmann sind Schriftsteller. Nicht deutsch-tamilische, | |
nicht deutsch-russische, sondern deutschsprachige Schriftsteller. Die | |
Sorgfalt, mit denen die beiden jedes Zitat, jedes Wort, jedes Silbe in den | |
Mund nehmen, gibt eine Idee davon, wie es ist, eben nicht mit Deutsch als | |
Muttersprache aufgewachsen zu sein. | |
„In welcher Sprache träumen Sie?“, fragt Uwe-Karsten Heye am Schluss. „In | |
der Traumsprache“, antwortet Sasha Salzmann und lässt den Moderator | |
sprachlos zurück. | |
9 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Nora Voit | |
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