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# taz.de -- Mehrsprachliche Bildung: Sprache und Macht
> Die Romanautorin Olga Grjasnowa hat ein Plädoyer für die Anerkennung von
> Mehrsprachigkeit vorgelegt. Es verläuft jenseits weniger
> Prestigesprachen.
Bild: Eine bilinguale Kita: es gibt zu wenig staatlich geförderte Plätze
Dass Mehrsprachigkeit eine Ressource ist, darüber sind sich wohl die
meisten einig. Im multilingualen Europa wird das Sprachenlernen mit dem
Ziel gefördert, dass sich jede*r neben der Erstsprache in zwei weiteren
Sprachen verständigen kann. Bildungsbürgerliche Eltern bemühen sich für
ihre Zöglinge um Plätze in [1][bilingualen Kindergärten und Schulen]. Nur
leider gibt es davon viel zu wenige, zumindest solche, die staatlich
gefördert werden.
„Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule“ (I. Gogolin) wurde
schon vor über einem Vierteljahrhundert diagnostiziert und obwohl sich
seither einiges bewegt hat, etwa Deutschlands klares Bekenntnis, ein
Einwanderungsland zu sein, hat die grundsätzliche Orientierung des
Bildungswesens an der Einsprachigkeit und das gleichzeitige Desinteresse an
mehrsprachiger Kompetenz heute noch Gültigkeit.
Dazu kommt eine defizitäre Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit: Nicht alle
Sprachen sind gleichermaßen wertgeschätzt und erwünscht. Die Minorisierung
des Türkischen oder Arabischen im Vergleich zu Sprachen wie Englisch,
Französisch oder auch Mandarin verrät uns viel über die Machtbeziehungen
zwischen verschiedenen Gruppen und Hierarchisierungen von Herkunftsländern.
Womit zwei Kernaussagen des ersten Sachbuchs der erfolgreichen Roman- und
Bestsellerautorin [2][Olga Grjasnowa] umrissen wären. Grjasnowa legt kein
per se philosophisches Buch vor, auch wenn sie sich auf Jacques Derrida und
Judith Butler beruft. Es ist auch kein streng wissenschaftlicher Text, der
sorgsam sämtliche Forschungsergebnisse zum Thema versammelt, was nicht
bedeutet, dass die einschlägige Literatur keine Erwähnung findet.
## Die Macht der Mehrsprachigkeit
Die „Macht der Mehrsprachigkeit“ ist ein Essay, der auch viele persönliche
Erfahrungen und Beschämungen preisgibt. Wie fühlt es sich an, wenn das
Sprachförderungskonzept der Regelschule darin besteht, Schüler*innen
ohne ausreichende Deutschkenntnisse ein bis mehrere Jahre zurückzustufen
und dabei natürlich selbstredend keine weiteren zielführenden
Förderungsmaßnahmen anzubieten? Wie ist es, gesagt zu bekommen, dass man in
Deutsch leider nie ein „sehr gut“ bekommen werde, weil man ja mit leichtem
Akzent spräche?
Wie verunsichert werden Eltern mehrsprachiger Kinder, wenn ihnen in
Kindergärten und Schulen gesagt wird, die Kinder hinkten in der
Sprachentwicklung den monolingualen Kindern hinterher und nicht dazu gesagt
wird, dass das bei mehrsprachigen Kindern häufig beobachtet wird und eben
kein Anlass zur Beunruhigung sein muss, weil diese Kinder zwei oder mehr
Sprachsysteme gleichzeitig erwerben.
Diese Beispiele verleihen der „Macht der Mehrsprachigkeit“ ein ganz
besonderes Gewicht. Denn den Leser*innen nachvollziehbar und nachfühlbar
zu machen, was es bedeutet, immer wieder Diskriminierungen einstecken zu
müssen, weil in den Bildungsinstitutionen und in der Mehrheitsgesellschaft
ein überwiegend uninformierter Umgang mit dem Thema Mehrsprachigkeit und
Spracherwerb vorherrschen, erzeugt eine besondere Schubkraft.
## Gesellschaftlicher Wandel
Theoretische Einsichten und Forschungsergebnisse, die seit Jahrzehnten
vorliegen, scheinen allein nicht auszureichen, um einen gesellschaftlichen
Wandel zu bewirken.
Grjasnowas Essay ist ein leidenschaftliches Plädoyer dafür,
Mehrsprachigkeit, nicht einige Prestige-Sprachen, endlich umfassend als
Ressource anzuerkennen und diese Wertschätzung konsequent in den
Bildungsinstitutionen umzusetzen.
8 Jun 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Simone Heine
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