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# taz.de -- Neuer Roman von Olga Grjasnowa: Die kindliche Geisel des Zaren
> Olga Grjasnowa erweist sich als furchtlose Erzählerin. In „Der verlorene
> Sohn“ malt sie eine historische Geschichte aus Russland in frischen
> Farben.
Bild: Gefangen im Kaukasus, plastisch erzählt
Die Geschichte ist wahr und doch kaum zu fassen: Im Jahr 1839 gab Scheich
Schamil, Anführer der muslimischen Bergvölker Dagestans, die sich im Krieg
mit den russischen Eroberern des Nordkaukasus befanden, dem Kriegsgegner
bei Verhandlungen seinen neunjährigen Sohn als Geisel. Die Russen dankten
ihm das Vertrauen schlecht. Sie stürmten dennoch die Festung Schamils, dem
es zu fliehen gelang. Sein Sohn aber wurde nach Petersburg entführt und im
Einflussbereich der Zarenfamilie russisch erzogen.
In [1][ihrem vierten Roman] „Der verlorene Sohn“ imaginiert [2][Olga
Grjasnowa] das Leben und Schicksal dieser kindlichen Geisel: Jamalludin,
der mit gleichaltrigen Jungen ein Kadetteninternat besucht, schließt die
Schule mit Bestleistungen ab und geht anschließend zum Militär. Als
russischer Offizier wird er zunächst in der Provinz stationiert, wo er eine
junge Frau kennenlernt, mit der er sich verlobt.
Zur Heirat aber kommt es nicht, denn vorher wird Jamalludin gegen ein paar
georgische Prinzessinnen ausgetauscht, die sein Vater als Geiseln genommen
hatte. 15 Jahre nach seiner Entführung kehrt er in seine Heimat zurück, die
ihm fremd geworden ist. Sogar seine Muttersprache hat er vergessen...
Einen solchen Lebensweg psychologisch zu fassen, ist eine schwierige
Aufgabe. Olga Grjasnowa aber findet eine Art, sich ihr größtenteils zu
entziehen und sie dabei doch irgendwie zu lösen. In dritter Person und
durchgehend aus Sicht Jamalludins erzählt – wobei die übergeordnete
Perspektive einer erzählenden Betrachterin spürbar bleibt –, schlägt der
Roman einen beinahe naiven Tonfall an, der allein durch seine Schlichtheit
alles Erzählte gleichermaßen versachlicht.
Das Trauma, das der entführte Junge erleidet, wird mehr oder weniger
ausgespart. Die Dinge sind, wie sie sind. Menschen erleben furchtbare
Dinge, und Jamalludin muss sich eben immer wieder auf ganz neue Situationen
einstellen. So einfach ist das, und so lebt und überlebt er.
## Dieser Roman funktioniert anders
Grjasnowa vermeidet jene gewisse erzählerische Folgerichtigkeit, die man
von einem Roman normalerweise erwartet: dass neue Personen, zum Beispiel,
dann ausführlich eingeführt werden, wenn sie auch für den weiteren Verlauf
der Erzählung interessant sind.
Dieser Roman funktioniert anders. Immer wieder tauchen Menschen in
Jamalludins Leben auf, die nur sehr kurzzeitig eine Rolle spielen, aber in
dieser kurzen Zeitspanne wichtig sind: ein junger, in den Kaukasus
verbannter russischer Offizier etwa, der dem Jungen während seiner
Entführung nach Russland zur Begleitung mitgegeben wird.
Dieser Alexander ist, obwohl sie keine gemeinsame Sprache haben, die
einzige Bezugsperson des verwirrten Kindes in dieser Phase – und wir werden
neugierig genug auf sein eigenes Schicksal. Danach wird er aber sang- und
klanglos aus dem Roman verschwinden. Dieses Muster der Episodenhaftigkeit
wiederholt sich wieder und wieder; auch unwichtige Nebenfiguren werden oft
mit einer Aufmerksamkeit bedacht, die sich für den weiteren Verlauf der
Erzählung als irrelevant erweist.
## Heimliche Freizügigkeit
Eine der wenigen persönlichen Konstanten in Jamalludins Leben ist
ausgerechnet Zar Nikolai, unter dessen Protektion er lebt und dem er ein
paar Mal begegnet. Ein paar Freunde vor allem aus Kadettenzeiten gibt es,
und mit der Schwester seines besten Freundes verlobt Jamalludin sich
schließlich auch. (Die heimliche Freizügigkeit, die die Autorin dieser
Beziehung andichtet, dürfte allerdings kaum den Gepflogenheiten der Zeit
entsprochen haben, sondern auf den Erwartungshorizont einer heutigen
Leserschaft zielen.)
Olga Grjasnowa, 1984 geboren, malt in „Der verlorene Sohn“ das Bild einer
fremden Zeit, einer fremden Welt und eines nur schwer fassbaren
Menschenschicksals in klaren, frischen Farben. Sie ist eine furchtlose
Erzählerin. Das dürre Gerüst historischer Fakten umkleidet sie sehr frei
und unbekümmert mit allerlei imaginiertem Stoff, der auch deswegen so
lebendig schimmert, weil sie ihn gar nicht unnötig verbrämt.
Ihre plastische, fast volkstümliche Erzählweise macht implizit auch die
Fiktionalität des Erzählten deutlich. Ob es so gewesen ist, wie sie es
erzählt, oder in Wirklichkeit ganz anders war, spielt keine Rolle. Es ist
eine sehr gute Geschichte. Schön und ziemlich traurig.
15 Nov 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Literatur
Russland
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