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# taz.de -- Jane Gardam „Robinsons Tochter“: Das gelbe Haus ist eine Insel
> Jane Gardams Roman „Robinsons Tochter“ wurde nach 35 Jahren nun erstmals
> ins Deutsche übersetzt. Er zeichnet ein Frauenleben im Zeitraffer.
Bild: Pollys Haus liegt direkt am Meer: Sonnenaufgang in Nord-Yorkshire
Als die sechsjährige Polly Flint bei ihren Tanten Frances und Mary
einzieht, weiß noch niemand, dass es für immer sein wird. Die Mutter des
Mädchens ist gestorben, als Polly noch ein Baby war, und nur kurze Zeit
nachdem er Polly zu den Tanten gebracht hat, geht ihr Vater, ein Kapitän,
mit seinem Schiff unter. Nun ist Polly Waise und das jüngste Mitglied eines
rein weiblichen Haushalts, zu dem außer ihren Tanten die vom Leben
verbitterte, aber hochgebildete Witwe Mrs. Hobbs gehört und das resolute
Hausmädchen Charlotte.
Zur Schule geht Polly nicht (was ahistorisch und wohl der literarischen
Absicht geschuldet ist, denn um die Wende zum 20. Jahrhundert, die Zeit, zu
der die Handlung einsetzt, gab es in England längst eine Schulpflicht),
aber Mrs. Hobbs sorgt dafür, dass das Mädchen zumindest fließend Deutsch
und Französisch lernt. Für den Rest ihrer Bildung sorgt Polly selbst, indem
sie sich durch die Bibliothek arbeitet, die ihr Großvater hinterlassen hat.
Ein Buch ist dabei, das sie wieder und wieder liest und das ihr großer
Lebensbegleiter wird: Daniel Defoes „Robinson Crusoe“. Tatsächlich ist
Pollys Situation derjenigen von Robinson auf seiner Insel nicht unähnlich.
Das große gelbe Haus, in dem sie mit den Tanten lebt, liegt direkt am Meer,
einsam auf weitem Marschland, das häufig genug von Wasser überschwemmt ist,
so dass es scheint, als sei das Haus selbst auch eine Insel.
Auf der einen Seite liegt das Meer, auf der anderen Seite wird der Blick
gefangen durch die aufragenden Bauten eines Eisenwerks – wir befinden uns
in der werdenden Industriegegend von Nord-Yorkshire.
In der kleinen Siedlung, die vor dem Werk liegt, gibt es eine Kirche, die
Polly mit den frommen Tanten regelmäßig besuchen muss. Zwar hat sie nichts
gegen den Gottesglauben an sich, weigert sich aber standhaft, sich
konfirmieren zu lassen, weil sie schon als Zwölfjährige Ritualen misstraut.
Und während die Welt drumherum sich über die Jahre verändert und näher an
das Haus heranrückt, bleibt Polly standhaft in ihrer Treue zu Robinson und
zum gelben Haus, ihrer eigenen Insel, auf die sie immer wieder zurückkehrt.
Kirchenbesuch, Gottesglaube und Rituale
Die große Erzählerin Jane Gardam präsentiert dieses Frauenleben gleichsam
im Erinnerungszeitraffer, der immer schneller wird, je weiter die Zeit
fortschreitet. Man kennt das aus dem echten Leben. Mit Jane Austen ist
Gardam verglichen worden (eine Autorin, die Polly übrigens nicht sehr
schätzt, wie sie behauptet), und in etlichen Punkten, unter anderem was den
Handlungsfokus dieses Romans betrifft, ist der Vergleich sehr
nachvollziehbar.
Die konkrete Welt der Polly Flint ist äußerst beschränkt; ihr gesamtes
Leben spielt sich im gelben Haus ab, abgesehen von wenigen Besuchen in
anderen Häusern, darunter einem längeren Aufenthalt bei einer wohlhabenden
Verwandten, die KünstlerInnen um sich zu scharen pflegt. Hier lernt Polly
einen jungen Mann kennen, mit dem es fast etwas werden könnte. Aber dann
kommt der Weltkrieg.
Ein großer Unterschied zu Austen et al. ist allerdings, dass dort stets am
Ende eine Elizabeth ihren Mr. Darcy bekam. Bei Gardam ist Liebe
variantenreicher und schwieriger und bedeutet auch nicht alles. Wenn Polly
jahrelang im gelben Haus sitzt, „Robinson Crusoe“ ins Deutsche und
Französische übersetzt und dabei zu viel Whisky trinkt, dann wohl auch
deswegen, weil es aus verschiedenen Gründen erst mit der einen und dann mit
der anderen Liebe nicht geklappt hat.
Aber vor allem deshalb, weil eben dies zu tun ihr im Leben bestimmt ist –
weil Polly Flint von vornherein „auf Robinson geprägt“ wurde, wie sie es
später ausdrückt, als aus ihr eine gestandene Frau im vorgerückten Alter
geworden ist.
Gardam erzählt dieses Menschenleben in Ich-Form, was die schöne
Eigensinnigkeit ihrer Protagonistin verdeutlicht, ohne dass sie eigens
beschrieben werden müsste. Pollys klarsichtige Art, die Welt und die
Eigenarten ihrer Mitmenschen wahrzunehmen, teilt sich von selbst mit. Die
lakonische Abgeklärtheit, mit der diese Ich-Erzählerin auf ihr Leben
blickt, lässt keine Sentimentalitäten zu.
Große Gefühle beobachtet Polly, bei sich selbst wie bei anderen,
grundsätzlich skeptisch und mit subtilem Spott. Das ganz normale, gleichsam
allgegenwärtige menschliche Leiden liegt bei Gardam irgendwo unter dem
Text. Es mag dort deutlich zu ahnen sein, aber fürs Erste ist es gebannt
und mindestens für die Dauer der Lektüre unschädlich gemacht. Auf einer
einsamen Insel wäre dieser Roman eine großartige Überlebenshilfe.
19 Dec 2020
## AUTOREN
Katharina Granzin
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