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# taz.de -- Essay Lektürebilanz unter Corona: Versuch über die Liebe zum Lesen
> Literatur zur Ruhe und Entspannung? Ach was. Gerade in Zeiten von Corona
> geht es um Hinwendung zur Welt – zum Beispiel mit „Krieg und Frieden“.
Bild: Lesen ist Kontaktaufnahme mit der Welt: Warteschlange in Berlin
Manche lesen derzeit so viel, als gäb’s kein Morgen. Für andere (mich)
fallen ehrliche Lektürebilanzen dagegen ernüchternd aus. „Die Pest“ zum
Beispiel habe ich schnell wieder beiseite gelegt. Man begleitet bald
Männer, die schrecklich bedeutungsvoll über die Lage nachdenken, Exkurse
über Seinsvergessenheit inklusive. Vielleicht ist mir das mittlerweile
schlicht zu heroisch.
Ich bin zurzeit aber auch ungeduldig mit Büchern. Homeoffice, Home-Kita: In
den zwei Stunden, die zum Lesen bleiben, sind auch andere Dinge zu
erledigen. Beziehungsdinge. Informationsdinge: Das Internet nach
[1][Corona-News] durchwühlen (in den ersten Wochen eine manisch betriebene
Tätigkeit). Oder auch: Kopfhörer auf, einfach aus dem Fenster gucken. Muss
auch sein. Und es ist nicht nur die fehlende Zeit, Romane haben unter
diesen Umständen nicht immer den für sie nötigen gedanklichen Raum.
Allerdings gibt es einen Roman, dem gegenüber ich alles andere als
ungeduldig bin; er hält vielmehr sogar ein Stück weit diese immer wieder
seltsamen Tage unter Corona zusammen. Irgendwo stand schon geschrieben,
dass „Krieg und Frieden“ zu lesen inzwischen eine Klischeevorstellung
darüber ist, was man während des Lockdowns alles einmal machen könnte; nun,
ich tue es tatsächlich.
Aktuell bin ich auf Seite 522 des zweiten Bandes in der wunderbar rauen
Übersetzung von Barbara Conrad, Napoleon marschiert seit 100 Seiten in
Moskau ein. Ich lese es sehr langsam. Die Liebesepisode zwischen Fürst
Andrej und Natascha, die Wolfsjagd, in der der Mensch als das eigentliche
Raubtier erscheint, die Schlacht von Borodino – am liebsten wäre mir
gerade, solche Passagen würden niemals enden.
## Bin ich etwa ein romantisierender Leser?
Die Liebe zum Lesen bekommt man derzeit auf vielen Kanälen gespiegelt. Als
von Marketingmaßnahmen kaum zu unterscheidender Appell zum Bücherkauf. Als
echte Sorge um kleine Buchhandlungen. Als fröhlich in den sozialen Medien
geteilte Fotos von Buchpaketen, die dann weggelesen werden. Und eben auch
als stille Klassikerlektüre.
Es bleibt aber auch ein Stachel. Bin ich etwa, während ich mich bei Camus
von undeutlichen Gefühlen der Abwehr leiten lasse, bei Tolstoi – und unter
den Nervositäts- und Zeitbedingungen von Corona – zum unkritischen, den Akt
des Lesens romantisierenden Liebhaberleser geworden?
Über die Liebe zum Lesen und ihre Geschichte hat sich der Journalist Joshua
Rothman kürzlich im New Yorker Gedanken gemacht. Rothman bezieht sich auf
die Kulturgeschichte „Loving Literature“ der Literaturprofessorin Deidre
Shauna Lynch. Ihr zufolge gibt es die Liebe zum Lesen – die
sentimentalische Einfühlung in den Text, die Verehrung der Autoren und
Autorinnen, die kultische Aufladung des Objekts Buch, die
Lebenssinnstiftungshoffnungen – im englischen Sprachraum seit der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts.
## Werther, Lotte und Klopstock
Vorher hat man rational gelesen, immer auch um zu erfahren, wie man
rhetorisch kraftvoll Sprache einsetzen kann, um sich gesellschaftlich zu
behaupten. Die Erfindung der Liebe zum Lesen ging also, pauschal
formuliert, einher mit der Erfindung des modernen Individuums.
Das ist nun kein origineller Befund. Im deutschen Sprachraum wäre auf die
Periode der Empfindsamkeit zu verweisen. Berühmte Szene: Wie sich bei
[2][Goethe Werther und Lotte] ihrer Gefühle versichern, indem sie auf ein
Gedicht von Klopstock anspielen. Und es soll hier auch gar nicht um den
Gegensatz zwischen gefühligem und rationalem Lesen gehen, der in Debatten
rund um aristotelische Einfühlungsästhetik versus episches Theater,
Emphatiker versus Gnostiker oder auch Thesenfreude versus Philologie immer
mal wieder hochkocht.
Wirklich interessant an dem Aufsatz von Rothman ist vielmehr, dass er für
die Liebe zur Literatur ganz automatisch von anderen Rahmenerzählungen
ausgeht, als sie in Deutschland im Schwange sind. In Amerika existiert
offenbar ein anders gestimmter Resonanzraum.
## Entschleunigung und Kanonbildung
In Deutschland sind damit vor allem zwei Vorstellungen verknüpft:
Entschleunigung und Kanonbildung. Beide Vorstellungen sind eh fragwürdig
und werden derzeit vielleicht – hoffentlich! – auch ein Stück weit
einkassiert. Entschleunigung braucht in Zeiten des Lockdowns kein Mensch.
Und die Vorstellung, dass es gesicherte kulturelle Fundamente gibt, auf die
man bauen kann, steht in all ihrer Fantasiehaftigkeit da. Denn Corona zeigt
doch gerade, dass die wirklich erschütternden Krisen immer aus den
unerwarteten Richtungen kommen. Wer hätte Anfang dieses Jahres überhaupt
für möglich gehalten, dass Deutschland seine Autoindustrie schließt und die
Schulen zu sind? Kein Mensch.
Für Rothman und Lynch speist sich die Liebe zur Literatur aus anderen
Quellen. Entscheidend ist für sie, dass Lesen „die Distanz zwischen einem
selbst und den anderen sowie zwischen dem Jetzt und dem Dann“ überbrückt.
Lesen, so verstanden, heißt also gerade nicht Seelenmassage oder Wellness
jenseits der Zerrissenheit der Welt, sondern vielmehr Kommunikation,
Kontaktaufnahme und ein Gefühl dafür, dass die Welt größer ist als das
Zimmer, in dem man liest.
## Der Austen-Kult, der Kafka-Kult
Auch Kanon-Ideen kann man mit Rothman und Lynch anders werten. Ein
literarischer Kanon kommt bei ihnen vor, bildet aber keinen festen Felsen,
um darauf Identitäten zu bauen. Stattdessen wäre es besser, von variablen
Gravitationspunkten auszugehen, um die Praxis literarischer Kulte zu
ermöglichen: Kulte um Jane Austen, James Joyce, Leo Tolstoi, Franz Kafka,
Thomas Bernhard, [3][Ingeborg Bachmann], neuerdings womöglich Karl Ove
Knausgård.
Das trägt den ständig stattfindenden Verschiebungen im literarischen Feld
Rechnung. Solche Kulte ermöglichen Gruppenbildungen der Verehrung, sind
aber immer auch mögliche Angriffspunkte für Abwertungen von AutorInnen.
Derzeit funktioniert etwa der Kult um Peter Handke in dieser Ambivalenz.
Hinwendung zur Weite der Welt und der Geschichte statt Entschleunigung,
Literaturkulte statt Kanon als „eine feste Burg ist unsere Kultur“ – mir
kommen die Rahmenerzählungen von Rothman und Lynch viel attraktiver und
auch realistischer vor als die hierzulande derzeit üblichen.
## Der Trost des Lesens
Wenn man „Krieg und Frieden“ liest, hat das jedenfalls mit Entschleunigung
wenig zu tun. Man wird konfrontiert mit einer Vielzahl menschlicher
Verhaltensweisen anlässlich eines unüberschaubaren historischen Geschehens.
Zweifel, Irrungen und Wirrungen, Verblendungen, falscher Heroismus, auch
jähe Erkenntnisse, Eröffnung von Sinnhorizonten (und dann wieder das
Vergessen dieser Eröffnungen) – und das alles eben als Schiffbruch mit
Zuschauer: Es lässt sich von diesem Durcheinander erzählen, und man kann
das lesen.
Wenn Lesen einen Trost bereithält, dann liegt er auf dieser Ebene.
In der sehr empfehlenswerten Studie [4][„Die Unruhe der Bücher“] von Sascha
Michel (Reclam Verlag) steht der so pathetische wie vielleicht schlicht
auch zutreffende Satz: „Genau dafür brauchen wir die Bücher: damit uns
immer wieder schockartig bewusst ist, wie viel größer das Universum ist,
als wir es zu denken gewohnt sind.“
Lesen ist für Michel ein Herd der Unruhe und Kontingenz und eben gerade
nicht eine kontemplative Quelle der Ruhe und Entschleunigung. So ist es.
Und es ist es eine schöne Erfahrung, wenn man feststellt, dass die Liebe
zum Lesen größer sein kann, als man von ihr zu denken gewohnt ist. Man muss
vielleicht manchmal nur anders von ihr erzählen.
3 May 2020
## LINKS
[1] /-Corona-News-vom-30-April-/!5682241
[2] /Kino-Film-Goethe/!5134160
[3] /Briefwechsel-zwischen-Celan-und-Bachmann/!5177328
[4] /Lesen-in-Zeiten-der-Coronavirus-Krise/!5668524
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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