# taz.de -- Über Akkus in der Merkel-Ära: Ladezyklen und Orientierung | |
> Sie können gehörig nerven, aber sie gehören auch zu den Dingen, die dem | |
> Alltag Halt geben. Ein essayistischer Erfahrungsbericht. Über Akkus. | |
Bild: Da wurde sich nicht gut gekümmert: Eine traurige Ladestandsanzeige eines… | |
In der großartigen Kurzserie [1][„The Queen’s Gambit“] von Scott Frank u… | |
Allan Scott auf Netflix wird Beth Harmon, die Hauptfigur, einmal gefragt, | |
was sie denn nun mit Schach verbinde. Es gehe ihr nicht so sehr um die | |
Figuren, so ihre Antwort, sondern um das Schachbrett. „Ich fühle mich | |
darauf sicher. Ich kann es kontrollieren, ich kann es beherrschen. Und es | |
ist vorhersehbar. Wenn mir Schmerz zugefügt wird, kann ich nur mich selbst | |
anklagen.“ | |
Als ich diese Szene sah, musste ich an Akkus denken. Das ist natürlich | |
stark erklärungsbedürftig. | |
Über Akkus nachzudenken heißt, die Maschinisten der Digitalisierung in den | |
Blick zu nehmen. Akkus sind nicht so glamourös wie die Computerchips und | |
nicht so extrovertiert wie die Bildschirme. Außerdem: Chips und Bildschirme | |
funktionieren, oder sie funktionieren nicht, und wenn sie nicht | |
funktionieren, kann man nichts machen. Um Akkus muss man sich dagegen | |
kümmern. Man muss sie aufladen, ein Stück weit pfleglich behandeln, | |
Tiefenentladungen vermeiden. | |
Im Gegensatz zu Chips und Screens haben Akkus zudem eine eingebaute | |
Lebensspanne. Aufgrund ihrer internen Prozesse verlieren sie mit jedem | |
Ladezyklus ein Stückchen mAh-Kapazität (so wie Vinyl-Alben, die, wenn man | |
sie abspielt, sich auch leicht abnutzen) – mAh, Milli-Ampere-Stunden, eine, | |
wenn man sich mit Akkus beschäftigt, zentrale Maßeinheit. So wie PS beim | |
Auto. Ladezyklus, ein weiterer zentraler Begriff. So wie gefahrene | |
Kilometer. | |
Trotz dieser teilweise nervigen und, alles in allem, [2][unclean analogen | |
Eigenschaften] sind Akkus wie durch Zauberhand zuletzt im Alltag immer | |
präsenter geworden. | |
## Sie werden immer mehr | |
Ich habe gerade mal durchgezählt. Ich lebe inzwischen mit 14 wichtigen | |
Akkus, sie halten mich ganz schön auf Trab. Handy, Tablet, das alte iPad | |
(mit Ebooks, die ich in kein anderes Format transformiert bekomme), | |
Zeitungsproduktionslaptop, Schreiblaptop, großer Wechselakku des | |
Schreiblaptops (es ist ein älteres Modell), Filmgucklaptop (ein bisschen | |
spleenig, aber ich trenne halt gern zwischen Zeitung produzieren, schreiben | |
und Filmen gucken), Bluetooth-Box, Bluetooth-Kopfhörer, Haarschneider, | |
Powerbank, diese aufladbare Blumenlampe aus dem taz-Shop, der alte Kindle, | |
Akkuschrauber. In allen diesen Geräten stecken Akkus. Akkus sind nicht nur | |
immer leistungsfähiger, sondern vor allem auch immer mehr geworden. | |
Dabei sind Akkus Ambivalenzmaschinen. Sie ermöglichen Freiheiten und | |
limitieren sie zugleich. Mobilität, einer der Schlüsselbegriffe unserer | |
Zeit (bis Corona kam). Artikel schreiben im Zug. Filme schauen nachts auf | |
dem Balkon (im November eingehüllt mit Kapuzenpulli und Decke), Charles | |
Mingus hören im Park. Ohne Akkus schwer möglich. Jede*r hat da eigene | |
Bilder im Kopf. | |
Ich erinnere mich aber auch an wahre Akku-Abenteuer. Damals der [3][Bericht | |
von der Friedenspreisverleihung,] im Café geschrieben und kurz vorm | |
Selbstausschalten des Geräts in die Redaktion geschickt. Das war knapp. | |
Außerdem zwingen einen Akkus eben dazu, auf sie zu achten. Unter fünfzig | |
Prozent Ladestand werde ich nervös. Immer mal wieder zu überprüfen, wie | |
weit diese kleine stilisierte Batterie in der Statuszeile des jeweiligen | |
Geräts noch von links mit dem weißen Balken gefüllt ist, gehört zu meinen | |
ständigen Ritualen. So wie sich ins Gesicht fassen. | |
## Kurz vor der Selbstabschaltung | |
Der Punkt dabei ist: Irgendwann habe ich festgestellt, dass ich mich sogar | |
gern um meine Akkus kümmere – selbst wenn ich das selbst ein Stück weit als | |
uncool und auch als zwanghaft empfinde. Dass ich mal mit einem ungenügend | |
aufgeladenen Handy oder Laptop aus dem Haus gehe, kommt so gut wie nie vor. | |
Ständig schließe ich ein Ladegerät an oder ziehe den Stecker eines anderen | |
Ladegeräts aus der Steckdose. | |
Und ich kenne inzwischen auch meine Pappenheimer. So hat der Akku des | |
Filmlaptops – der aufgrund des stromfressenden hochauflösenden Bildschirms | |
auch gut zu tun hat – die Eigenschaft, bis hinunter zum Ladestand von | |
fünfzig Prozent prima zu funktionieren und darauf die zweiten fünfzig | |
Prozent in Windeseile zu entladen. Keine Ahnung, woran das liegt. | |
Das alles mag im Einzelfall nerven – einmal kam ich mit einem nur zur | |
Hälfte gestutzten Bart aus dem Badezimmer, weil dem Haarschneider | |
mittendrin der Saft ausgegangen war –, aber ich muss mir eben eingestehen, | |
dass Akkus mir offensichtlich über den mobilen Strom hinaus noch etwas | |
anderes geben. Ein Gerüst. Einen Orientierungsrahmen. | |
## Netzteil suchen noch vorm Zähneputzen | |
Und von Induktionsladestationen oder akkuraten Steckerleisten, auf denen | |
die jeweiligen Netzteile ordentlich aufgereiht sind, möchte ich nichts | |
wissen. Nein, ich möchte es auf die gute alte Art haben, inklusive Netzteil | |
suchen und morgens noch vorm Zähneputzen das Tablet aufladen, auf dem ich | |
Zeitungen lese und Twitter verfolge, damit es den Tag durchhält. | |
Nun ließe sich das alles sicherlich ein Stück weit unter individueller | |
Schrulligkeit verbuchen. Doch ich plädiere darauf, dass Schrulligkeit die | |
Deutungsmöglichkeiten keineswegs ausschöpft. | |
Der britische Kultursoziologe und Ethnologe Daniel Miller hat vor einem | |
Dutzend Jahren ein bis heute instruktives Buch über die Beziehungen von | |
Menschen zu Gegenständen geschrieben, „Der Trost der Dinge“. In der | |
deutschen kulturkritischen Tradition fallen solche Beziehungen in den | |
Bereich des Uneigentlichen, sie werden mit dem Vorwurf belegt, der | |
interaktiven Lebenswelt defizitär entgegenzustehen, wenn sie nicht gleich | |
mit konsumkritischen Ansätzen überzogen werden. | |
## Beziehungen zu Dingen | |
Daniel Miller beschreibt es anders. In dem Moment, in dem sich enge | |
gesellschaftliche und staatliche Ordnungen zurückziehen, werden für ihn | |
Beziehungen zu Dingen in einem Mix mit menschlichen Beziehungen und | |
Gewohnheiten zu einem Fundus, aus dem sich die Einzelnen ihre jeweilige | |
Alltagsordnung zusammenbasteln. | |
Nun lässt sich darüber viel diskutieren, wahr ist zumindest, dass | |
diejenigen, die sich, um Gegenwart zu beschreiben, nur an die weltwichtigen | |
und offiziösen Themen halten (Trump, Klima, Lockdown), Gegenwart verfehlen. | |
Ihre Kontur und Komplexität bekommt die Gegenwart erst, wenn man die | |
Beziehungen zu Dingen und Menschen hinzunimmt. Daniel Miller: „Diese | |
Beziehungen bilden materielle und soziale Muster, die dem Leben des | |
Einzelnen Ordnung, Sinn und in der Regel auch ethische Maßstäbe geben und | |
ihm darüber hinaus ein Trost und eine Zuflucht sind.“ | |
Als so eine Zuflucht lässt sich womöglich der sorgende Umgang mit Akkus | |
tatsächlich beschreiben. Für andere mögen Schrebergärten, | |
Wohnungseinrichtungen oder Kleidungsstücke eine ähnliche Funktion erfüllen. | |
Bei mir sind es halt die Akkus. | |
## Die Sorge um sich | |
Und vielleicht sind Akkus in diesem Zusammenhang gar keine schlecht | |
gewählten Objekte. Wer sich um sie sorgt, kann andere Bereiche wiederum | |
entspannter angehen. Das weite Feld von Wellness und Selbstoptimierung zum | |
Beispiel, auf dem sich interessanterweise viele Menschen mit der Semantik | |
von Akkus beschreiben: „Mein Akku ist leer“, „Ich muss meinen Akku | |
aufladen, „Ich fühle mich ausgebrannt“ usw. Wer seine Ordnungsbedürfnisse | |
mit realen Akkus austobt, kann dagegen die Sorge um sich ein Stück weit dem | |
eigenen Körper überlassen. | |
Akkus wären, so gesehen, als Beziehungsobjekte interessant, keineswegs | |
obwohl, sondern gerade weil man sich um sie kümmern muss. Und gerade | |
aufgrund ihrer Ambivalenzen können Akkus vielleicht sogar als Symbolobjekte | |
unserer Zeit, ein Stück weit als Signum der Merkel-Jahre gelten, die durch | |
Ambivalenzen durch und durch gekennzeichnet sind: Krisen weltweit, aber den | |
eigenen Alltag kann man sich – wenn man denn einen alten Mietvertrag, eine | |
feste Arbeitsstelle und nicht zu viele Neurechte im Umfeld hat – passabel | |
einrichten. | |
Die Akkus stehen dabei äquivalent zum Schachbrett in „The Queen’s Gambit�… | |
Man kann sie kontrollieren, sie sind vorhersehbar, und wenn man zur Unzeit | |
mit einem entleerten Akku im mobilen Endgerät irgendwo herumsteht, kann man | |
nur sich selbst anklagen. | |
## Der beherrschbare Alltag | |
Doch es mag auch sein, dass Akkus diese Symbolik gerade wieder verlieren. | |
Denn zum einen werden sie inzwischen so ausgefeilt, dass man sich weniger | |
um sie kümmern muss. Zum anderen ist manches an der Erfahrung der | |
unmittelbaren Gegenwart weniger ambivalent. Die Erfahrung von Corona ist | |
eher die, dass nichts restlos beherrschbar ist am eigenen Alltag, dass man | |
bis in den innersten Bereich des eigenen Daseins zufälligen Begegnungen und | |
dem Verhalten der Mitmenschen ausgesetzt ist. Da stellt auch die Sorge um | |
Akkus keine Zuflucht mehr her. | |
Zum Teil treten möglicherweise die Mund-Nasen-Masken, mit denen wir uns | |
bedecken, um die anderen zu beschützen und überhaupt noch reale Begegnungen | |
zu ermöglichen, an ihre Stelle. Da kommt es darauf an, wie lange Corona | |
bleibt. Die Beziehungen zu Akkus waren gemütlicher. | |
22 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Netflix-Serie-ueber-Schachgenie/!5722650 | |
[2] /Kritik-an-neuem-Batterie-Gesetz/!5683899 | |
[3] /Navid-Kermanis-Rede-beim-Friedenspreis/!5239675 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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