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# taz.de -- Urbane Entwicklung in Deutschland: Die Eroberung der Innenstädte
> In den zentralen Vierteln deutscher Kommunen hat sich auch viel Positives
> getan. Die Entwicklung muss nun auf die nächste Ebene gehoben werden.
Bild: Unter dem Pflaster liegt der Strand – am Mainufer in Frankfurt
Wenn ich durch die Straßen gehe, muss ich mir manchmal die Augen reiben
(und vielleicht geht das ja anderen Menschen auch so). Selbstverständlich,
es gibt die Gentrifizierungstendenzen, die Mieterhöhungen und die
Verkehrswende, die auf sich warten lässt. Es ist noch viel zu tun. Aber es
hat sich in den zentralen Vierteln der deutschen Städte auch unglaublich
viel Positives getan, allein schon in der Zeit, die ich aus eigener
Anschauung überblicken kann.
Ich gehöre – die Alterskohorte gehört zur Perspektive, die man zu dieser
Entwicklung einnimmt, ebenso dazu wie der Stadtteil, in dem man lebt – zur
späten Babyboomer-Generation, die zweimal ziemlich am Beginn allgemeiner
gesellschaftlicher Umzugsbewegungen stand: einmal als Kind, als ich und
alle meine Freunde mit den Eltern raus ins Grüne der Vororte gezogen sind,
und später, als es, um zu studieren und auch sonst seine Erfahrungen zu
machen, zurück in die Innenstädte und Szeneviertel ging. In meinem Fall
mitten rein nach Kiel. Seitdem ist viel passiert.
Als ich zurück in die Stadt zog, war gerade eine postapokalyptische Welle
bis heute nachhallender Filme durch die Kinos geschwappt. In „Die
Klapperschlange“ (super Film!) war ganz Manhattan zu einem von Mauern
umgebenen, schwer bewachten Gefängnis erklärt worden; in den
Straßenschluchten herrschte der Naturzustand. In „Wolfen“ heulten Wölfe a…
den verfallenen Grundstücken südlich der Wall Street. In „Bladerunner“ (b…
heute mein Lieblingsfilm) huschten die Menschen zwischen modernen Ruinen
und überdimensionierten Wohngebirgen in dem Dauerregen umher, den sich in
„Taxi Driver“ wiederum Robert de Niro als Trevis Bickle herbeisehnt, um den
Abschaum von den Straßen zu waschen (den Film sehe ich inzwischen
kritisch).
Jedenfalls dem Zustand der Städte stellten all diese Filme schlechte
Zeugnisse aus. Die Innenstadtbereiche, das waren in ihnen War Zones und
Ruinenstädte, vernachlässigt und verlassen, preisgegeben dem Verfall. Nur
Woody Allen, der Stadtneurotiker, hielt mit seiner Feier Manhattans als
quirligem und, ja, auch schönem und lebenswertem Ort dagegen.
Man vergröbert in der Erinnerung gern, aber auf jeden Fall traf gerade
dieses Postapokalyptische etwas, und das Kaputte, wie es diese Filme
gezeichnet haben, ließ sich leicht in der Realität wiederfinden. „Die Erde
ist so unbewohnbar wie der Mond“ – dieser Titel eines Frankfurt-Romans von
Gerhard Zwerenz hatte in Bezug auf viele Innenstädte große Evidenz.
## Durch das Karoviertel huschten Ratten
Weite Bereiche waren noch in einer Weise grau und auch baufällig, wie man
es sich heute in den Zeiten des Urban Gardening und ganzer Straßenzüge mit
aufgehübschten Gründerzeitfassaden gar nicht mehr vorstellen kann (und
höchstens noch mit der Spätzeit der DDR verbindet). Durch das Karoviertel
in Hamburg huschten noch bis in die späten achtziger Jahre die Ratten. Und
Berlin-Neukölln war so kalt und verloren, wie es David Bowie in seinem
Stück „Neuköln“ (mit einem l) auf seinem „Heroes“-Album porträtiert …
Gerade die Wohngebiete für Arbeiter, aber auch die Bahnhofsgegenden waren
lange Zeit vernachlässigt worden.
In Hamburg und Westberlin zum Beispiel hat man ganz bewusst riesige
Stadtareale einfach verfallen lassen. In den Schubladen lagen nämlich
städtebauliche Masterpläne. Irgendwann sollten die Viertel vollständig
abgerissen, mit Wohnriegeln bebaut und durch vielspurige Schnellstraßen
erschlossen werden, um dann die endgültig autogerechte und zugleich, so die
Idee, lichtdurchflutete Stadt zu bilden. Investiert wurde in die
Bausubstanz nicht mehr.
In der Zwischenzeit ließ man Studenten und die damals sogenannten
Gastarbeiter dort wohnen. Die Alternativkultur und das, was später als
„bunte“ Lebenswelt dann auch touristisch interessant wurde, entstand so als
ungeplanter Nebeneffekt einer auf funktionale Trennung – arbeiten,
einkaufen, schlafen – und Stadtautobahnen ausgerichteten Stadtplanung, die
zum Glück nicht voll durchgezogen wurde.
Oder vielmehr, die aufgrund [1][von Bürgerprotesten und sozialen Kämpfen
nicht voll durchgezogen werden konnte]. Wer heute die beiden Begriffe
„Innenstadt“ denkt und „alte Bundesrepublik“, dem fällt als dritter Be…
schnell „Fußgängerzone“ ein. Vom Autoverkehr befreite Einkaufsstraßen sa…
Pollern und großen Blumenkübeln sind lange ein Symbol zumindest für
Westdeutschland gewesen, für seine versuchte Modernität genauso wie für
seine Provinzialität.
Doch das ist höchstens die halbe Wahrheit. Wer aktuell die Gegenwart in den
Stadtzentren lesen will, der muss die symbolischen und teilweise auch sehr
handfesten Auseinandersetzungen gerade um die sogenannte autogerechte Stadt
im Hinterkopf behalten. Dass sich in den deutschen Innenstädten derzeit die
Gewichte verschieben – [2][ein Stück weit weg von den Autos, ein Stück weit
hin zu den Fahrrädern] –, hat mit diesen Traditionen zu tun. Die teilweise
erbitterten Schimpftiraden zwischen SUV- und Radfahrern, die damit
einhergehen, auch.
## Niemandsland und Spielwiese
Das Kaputte, das war dann ja auch ein Niemandsland und eine Spielwiese,
begleitet von und aufgesetzt auf Fantasien, nach denen unter dem Pflaster
der Strand liegt und so weiter. Das wollte man sich dann auch nicht mehr
nehmen lassen. Die Hausbesetzungen und Straßenkämpfe der achtziger Jahre
sind von heute aus lesbar als Beginn des in der Gegenwart im Mainstream
angekommenen gesellschaftlichen Megatrends, die Innenstädte als Lebenswelt
zu erobern und zu gestalten. Dass [3][alternativ und politisch bewegte
Menschen damit zur Speerspitze der Gentrifizierung], zu sogenannten
Pionieren der Aufwertung der Innenstadtareale werden, stimmt auch. Gerade
die Veteranen der Bewegung haben bis heute die Angewohnheit, darüber sehr
wütend zu werden.
Und es ist ja auch wahr. Ehemals subversive Wohngegenden werden zu
Ballermannzonen (Kreuzberg am Schlesischen Tor) oder [4][beruhigen sich ins
wohlgeordnet Bürgerliche (Prenzlauer Berg)]. Aber man darf diese
Entwicklungen, trotz mancher Sympathien, eben nicht nur aus der Bewegungs-
und Pioniersicht sehen. Wie neu, für das konkrete Leben vieler Menschen
bedeutsam und für die Liberalität der Gesellschaft und ihrer verschiedenen
Lebensentwürfe insgesamt wichtig (denn Vororte sind nur etwas für
Kleinfamilien!) die soziale Eroberung die Innenstädte als Lebensräume sind,
sollte man jedenfalls nicht vergessen.
Es fehlen überhaupt noch passende Begriffe und Bilder, um die Entwicklungen
zu fassen. Dass die Innenstädte lange so einen schlechten Ruf hatten, hat
auch mit kulturellen Codes zu tun, die die Großstadt als Moloch sahen (bis
zur Deindustrialisierung auch zu recht, die Schlachthöfe lagen im Zentrum,
in der Innenstadt von Essen glühten die Hochöfen) und ihr eine Dorf- und
Kleinstadtidyllik entgegenstellten.
## Stadtluft macht frei, stinkt aber auch
Dass Stadtluft zwar frei macht, aber auch stinkt und rebellisch ist,
gehörte trotz solcher Großstadtromane wie „Berlin Alexanderplatz“ seit
Jahrhunderten zu den zentralen Setzungen deutscher Lebenskultur; ein
ausgewiesener Stadtneurotiker wie Michael Rutschky hat in seinen Essays
immer wieder das verkommene biblische Babylon als Schema auch noch
aktueller Stadtbeschreibungen ausgemacht: die Innenstadt als Sündenpfuhl.
Und mit seinem Interesse an innerstädtischen Bereichen als „Soziotop“, also
als eigenständigen Raum zwischenmenschlicher Beziehungen und Lebensformen,
standen er und seine Frau Katharina Rutschky lange Zeit ziemlich allein da.
Zur deutschen intellektuellen DNA gehören dagegen Entfremdungsszenarien.
Dabei ist, wenn man heute durch die Straßen geht (aber das hängt vielleicht
auch wirklich vom Viertel ab, in dem man lebt), das Engagement, mit dem
viele Menschen sich der Innenstadt als Wohnraum bemächtigen, mit Händen zu
greifen. Aussparungen im Asphalt rund um Bäume werden zu kleinen, wild
blühenden Gärten bepflanzt, Laternenpfähle guerillamäßig bunt umstrickt.
Einer bekannten Deutung zufolge hatten früher Graffiti auf Häuserwänden für
die Sprayer die Funktion zu signalisieren: Ich bin da, ihr müsst mit meiner
Existenz rechnen! Die Funktion haben inzwischen auch die vielfältigen
stellenweise graswurzelartig zusammenwachsenden Verschönerungsmaßnahmen von
Anwohnern in den Innenstädten übernommen.
Neben den Protesten gegen überhandnehmenden Autoverkehr und zu schnell
steigende Mieten gilt es vielleicht derzeit auch, einen Sinn für die
Schönheit dieses Engagements zu entwickeln. Und zugleich einen Sinn für die
Fragilität solcher Soziotope. Aus irgendeinem Grund ist es eine Art Mode,
schönen Wohnbereichen in der Innenstadt schnell Biedermeierlichkeit zu
attestieren und ihren Bewohnern Besitzstandswahrung vorzuwerfen. Als würde
man sich wieder zur Unbehaustheit eines echten Bohemelebens und zu den
Straßenkämpfen zurücksehnen.
Was man sich stattdessen vielmehr fragen kann, ist, ob es
gesamtgesellschaftlich gelingt, dieses von unten, von der Basis kommende
lebensweltliche Engagement auch institutionell mit funktionierenden
öffentlichen Räumen zu unterfüttern.
Wie unbefriedigend es ist, wenn die Innenstädte nur zum Einkaufen da sind
und noch die öffentlichen Bänke so unbequem gestaltet werden, dass man sich
auf gar keinen Fall auf ihnen hinlegen kann, wird doch gegenwärtig
offensichtlich. Bei den Parks hat man das vielerorts schon begriffen. Als
ich in die Stadt zog, war das Betreten des Rasens oft noch verboten;
inzwischen sind Parks Freizeitzonen.
Aber warum macht man nicht [5][die Bibliotheken, zu öffentlichen Räumen
umgestaltet, auch abends und am Wochenende auf]? Warum vernachlässigt man
die Schwimmbäder? Warum erlaubt man ganze Neubauareale samt bodentiefer
Fenster ohne kleinteilige Laden- und Caféstruktur in den Erdgeschossen?
Es ist an der Zeit, dass die Eroberung der Innenstädte auf die nächste
Ebene gehoben wird.
26 Jul 2019
## LINKS
[1] /Trauer-um-Werner-Orlowsky/!5276879
[2] /Verkehrspolitik-am-Beispiel-Aachen/!5578639
[3] /Gentrifizierung-in-Marburg/!5520343
[4] /Ostberliner-Cafe-Betreiberin-im-Interview/!5586893
[5] /Oodi-Bibliothek-in-Helsinki/!5556260
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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