# taz.de -- Verfilmung von Tolstois „Anna Karenina“: Manisch-depressiver Li… | |
> Joe Wrights „Anna Karenina“ wurde der Realismus ausgetrieben. Der Film | |
> spielt fast nur in Theaterkulisse und bietet großartige Künstlichkeit. | |
Bild: In „Anna Karenina“ werden alle Aspekte der Liebe beleuchtet: Anna (Ke… | |
Niemals – niemals! – hätte ich es für möglich gehalten, dass eine „Anna | |
Karenina“-Verfilmung einen so dermaßen überraschen könnte, schon gar nicht | |
bei diesem Team. Mit Keira Knightley in der Hauptrolle hat Joe Wright | |
bereits Jane Austens „Stolz und Vorurteil“ verfilmt, als lichtes | |
Ausstattungsstück mit allem, was dazugehört: historische Kostüme, | |
Schauplätze, Umgangsformen. Und auch bei seiner Adaption von Ian McEwans | |
Roman „Abbitte“ standen die Period-Piece-Aspekte so einer | |
Literaturverfilmung im Vordergrund. | |
Und jetzt das! Im Netz kann man wunderbar nachlesen, dass der britische | |
Dramatiker Tom Stoppard eine einleuchtende, aber eher konventionelle | |
Drehbuchbearbeitung von Leo Tolstois Epos abgeliefert hat. Die Idee | |
dahinter war hervorzuheben, dass „Anna Karenina“ alle Aspekte der Liebe | |
beleuchtet, von ihren sozialen Funktionen bis zur sexuellen Raserei, von | |
ihrer lebensbegründenden Kraft bis zur emotionalen Überforderung durch sie. | |
Das ist eine interessante Lesart und hätte dem bisherigen knappen Dutzend | |
Verfilmungen dieses Klassikers ein weiteres Stück gediegenes und leicht | |
bildungshuberndes Ausstattungskino hinzufügen können. | |
Das Problem war offenbar nur, dass Joe Wright Probleme hatte, die Handlung | |
gesellschaftlich zu verorten. Schon bei der Auswahl der Spielorte | |
scheiterte er. Und so kam er auf die Idee, die Handlung in ein | |
Theatergebäude des 19. Jahrhunderts zu versetzen (Joe Wrights Vater führte | |
ein Puppentheater, vielleicht spielte das bei dieser Entscheidung eine | |
Rolle). | |
Und so geschah es. Die Bühne, der Zuschauerraum, die Logen, das Foyer, die | |
Hinter- und die Oberbühne mit ihren Seilzügen – all das nutzt Joe Wright | |
als Kulissen für die großen St. Petersburger und Moskauer Bälle und | |
Gesellschaftsszenen des Romans. Zugleich betont er mit Fantasieuniformen | |
und einem ausgestellt affektierten Spiel die Künstlichkeit der | |
Rollenanlagen, gelegentlich bis ins Groteske. Herausgekommen ist so eine | |
„Anna Karenina“-Version, der der Realismus ausgetrieben wurde, für die der | |
Roman in der Literaturgeschichte doch so berühmt ist. | |
## Frühform des Kondoms | |
Das Ergebnis ist ungemein interessant, so hat man „Anna Karenina“ dann eben | |
doch noch nicht gesehen. In den Nebenfiguren betont Joe Wright zwar zu sehr | |
die Klischees. Die russische Bürokratie wird als Kasperletheater | |
vorgeführt. Viele Karikaturen von Lebemännern und Moralschachteln bevölkern | |
die Szenerie, zweimal geistert übrigens die verstorbene Susanne Lothar als | |
weibliche Kostümcharge und Charaktermaske vorbei. | |
Und auch Karenin (Jude Law), Annas betrogener Ehemann, muss erst allzu | |
stocksteif durch die Kabinette laufen – und vor dem ehelichen Beischlaf | |
allzu geschäftsmäßig eine museale Frühform des Kondoms hervorholen –, bev… | |
auch er sich von Gefühlen erschüttert zeigen darf. Aber dafür gewinnt der | |
Film unglaublich viel Freiheit und Ausgestaltungsmöglichkeiten für das | |
Liebeswallen im Zentrum der Handlung. | |
Wie von aller Erdenschwere befreit inszeniert Joe Wright etwa den zentralen | |
Tanz zwischen Anna (Keira Knightley) und dem Kavellerieoffizier Wronkski | |
(sehr hübsch: Aaron Taylor-Johnson), der ihre Affäre endgültig | |
unvermeidlich werden lässt. So künstlich, geziert, artistisch, waghalsig | |
und spektakulär sieht ihr aus einem Walzer hervorgehendes Duett aus | |
(Choreografie: Sidi Larbi Cherkaoui), als würden sie mit ihrer Leidenschaft | |
das Tanzen selbst neu erfinden. | |
Das berühmte Pferderennen, bei dem Wronski stürzt und Karenin die Affäre | |
entdeckt, wird, als Theaterspiel und reales Geschehen zugleich inszeniert, | |
zu einem Kunststück für sich. Zur großartige Gefühlsoper und zum | |
spektakulärer Ausstattungsreigen schwingt sich der Film immer wieder auf. | |
Und während der dramatischen Liebeshandlung zwischen Anna und Wronski mit | |
ihren manisch-depressiven Verlaufskurven kann Keira Knightley sowohl | |
zeigen, zu welcher Schönheit sie begabt ist, als auch, welche | |
Zerknautschtheit sich in ihrem Gesicht spiegeln kann. | |
## Dampflokomotive à la Hitchcock | |
Toll. Nur die Szene in der Oper, in der Anna als Ehebrecherin von der | |
russischen High Society abgelehnt wird, hätte man sich nicht gar so | |
hochgepitcht gewünscht. Zwischen den gesellschaftlichen und ihren durch | |
Eifersucht und Liebesüberdehnung hervorgerufenen eigenen Anteilen an ihrer | |
Einsamkeit, die sie in den Selbstmord treiben wird, differenziert der Film | |
nicht – während Karenin am Schluss eine eigene Würde bekommt. | |
Und die sexuelle Überhöhung der Dampflokomotive, die à la Hitchcock | |
schnaufend und stampfend mal als Modelleisenbahn, mal als reales Requisit | |
immer wieder in Tunnel einfährt, bevor Anna sich unter sie wirft, kann | |
einem auf die Nerven gehen. Aber das alles verzeiht man diesem Film gern, | |
angesichts der Gewagtheit seiner Konstruktion und der Artistik seiner | |
Umsetzung. | |
Ein paarmal verlässt der Film auch die Theaterkulisse. Vor allem wenn wir | |
im zweiten Handlungsstrang dem sinnsuchenden Tolstoi-Alter-Ego Levin auf | |
sein Gut folgen, wo er mit einfachen Bauern Heu erntet oder sich in der | |
Stube eine schlichte Kohlsuppe servieren lässt. Dieser B-Strang um Levin | |
und Kitty kommt in dem Film also immerhin vor, anders als in den | |
vorangegangenen Verfilmungen. | |
Aber während man bei der Anna-Wronski-Karenin-Handlung den Kern der Sache | |
getroffen fühlt, ist dieser Zweitstrang arg verkürzt. Was schade ist, hätte | |
er doch längst eine eigene Verfilmung verdient. Was wiederum nichts daran | |
ändert, dass man an Joe Wrights „Anna Karenina“-Vision beeindruckend viel | |
Spaß haben kann. | |
## „Anna Karenina“. Regie: Joe Wright. Mit Keira Knightley, Aaron | |
Taylor-Johnson, Jude Law u.a. 130 Min., USA 2012. Filmstart: 6. Dezember | |
2012. | |
5 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
Dirk Knipphals | |
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