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# taz.de -- Neuer Roman von Sabine Peters: Die unverständliche Erwachsenenwelt
> Die Schriftstellerin Sabine Peters zeichnet in ihrem neuen Roman
> Kindheits- und Familienmuster der sechziger Jahre nach. Sie verdient mehr
> Leser.
Bild: Familienszene aus den 1960er Jahren
Was Erwachsene an kleinen Kindern so mögen, ist deren spezielle Art, die
Welt zu sehen und zu beschreiben. Wahlweise findet man diese wundersamen
Versuche, sich die Welt verständlich zu machen, rührend, einfach nur lustig
oder man schreibt ihnen eine spezifische Weisheit zu; die vorbewusster und
mithin noch unkorrumpierter Denkweise, einer ursprünglichen Logik.
[1][Sabine Peters] zeigt in ihrem neuen, wie immer schmalen, wie es nun mal
sein muss als „Roman“ titulierten Buch mit dem nicht eben eingängigen Titel
„Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt“, dass der Prozess der
Weltaneignung keiner von schnurriger Harmlosigkeit ist, sondern im Grunde
genommen von großer Überforderung gekennzeichnet ist. Die lässt es als
Wunder erscheinen, dass wir ihn halbwegs unbeschadet überstehen.
Marie, so heißt wie in allen in schöner Zuverlässigkeit alle zwei Jahre
erscheinenden Peters-Büchern die Protagonistin, wächst in einer Familie
heran, die man aus Peters’ frühem Werk „Abschied“ von 2003 kennen kann:
Dort steht der patriarchalische Vater im Mittelpunkt, ein meist als „Doktor
Phil“ apostrophierter „Kulturmensch“, dessen Dominanz in seiner
Wissensüberlegenheit begründet ist, aber verloren geht, als er an Demenz
erkrankt.
Im neuen Buch erleben wir ihn in halbwegs voller Blüte seiner Autorität:
„Er hielt Vorträge und fragte ab.“ Es gehört zu den Stärken des Romans,
dass er keine seiner Figuren der Lächerlichkeit oder Eindimensionalität
preisgibt.
## Eine gebrochene Person voller Ängste
So ist dieser Vater, der sich vom freien Journalisten über den Archivar zum
Lehrer verändert, zwar recht peinlich in seiner Bildungshuberei und
Besserwisserei, doch erklärt Peters wie nebenbei, warum er zu dem wurde,
der er ist: nämlich eine gebrochene Person voller Ängste, deren
Überlegenheitsgebaren Folge seiner Unsicherheit ist. Wenn es darauf
ankommt, erweist er sich als durchaus emphatisch und stellt sich schützend
vor seine Familie, sogar wenn die Töchter schlechte Noten nach Hause
bringen.
Ebenso vielschichtig, wenn auch deutlich blasser, ist die Figur der Mutter,
deren Bigotterie und Duldsamkeit durch eine erhebliche Energie
konterkariert wird, mit der sie sich und ihre Interessen in der Familie zu
behaupten versteht.
Ähnlich wie in diesem Jahr [2][Frank Witzels „Inniger Schiffbruch“] oder
Oskar Roehlers „Der Mangel“ handelt es sich auch bei Sabine Peters’ Buch …
bundesdeutsche Zeitgeschichte der sechziger Jahre, um die Schilderung einer
typischen kleinbürgerlichen Familie im Spannungsfeld zwischen der Prägung
durch alte Autoritäten und deren sich abzeichnender Erosion – hier ist es,
darin wiederum Christoph Peters’ „Dorfroman“ ähnlich, das provinzielle
Milieu, vor allem aber die katholische Kirche, die das Denken und
Unbewusste beherrscht.
Für die vier Mädchen in Peters’ Familienanordnung – um zu deren
eigentlichen Heldinnen zu kommen – verstärken diese allgegenwärtigen
katholischen Rituale, Figuren und Normen das Grundunverständliche der
Erwachsenenwelt. Was den Kindern da begegnet, ist aber auch wirklich schwer
zu verstehen. In einem der kurzen Kapitel lässt Peters ihre Marie, deren
Entwicklung von einer etwa Vierjährigen bis zur Pubertät der Roman
nachzeichnet, einen Gottesdienst erleben, eine Schlüsselepisode, die
repräsentativ für das ganze Buch steht.
Staunend beobachtet das Kind, was sich an diesem „Ort der großen
Vorführung“ abspielt: „Man sagte Amen und sang. Ein Priester mit Glatze
stand auf und hielt einen Vortrag. Er machte in der Ansprache aus allen
Leuten eine einzige Familie, er nannte sie Brüder und Schwestern. Er
stellte Fragen, die er selbst beantwortete. Man hörte zu.“
Einem solchen Erwachsenentreiben eignet ein grausames Bedrohungspotenzial:
Der strafende Gott, dessen Urteile genauso unberechenbar sind wie die des
Vaters, ist ebenso eine latente Gefahr wie sie vielen Märchenfiguren
innewohnt, welche die Kinderwelt bevölkern.
Zugleich aber bieten diese rätselhaften Wunderwelten ein unerschöpfliches
Reservoir für die kindliche Fantasie, deren Aufgabe nicht nur darin
besteht, die Welt erklär- und damit bestehbar zu machen, sondern sie ganz
Pippi-Langstrumpf-haft lustvoll so zu malen, wie sie einem gefällt. Etwa
beim Mittagessen („Das Kartoffelpüree war ein Burgberg, in dem der Burgherr
Möhrenprinzen gefangen hielt“), wenn man im Garten sitzt („Sie gebot den
Wolken, bedachtsam zu regnen. Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt“)
oder wenn man mit der „Mamatschi“ genannten Großmutter den Tisch deckt:
„Man konnte auch tun, als wäre der Tisch ein Fußballfeld wie im Garten der
Nachbarn“.
Zumindest Marie ist eine Meisterin im Ummodeln der angetroffenen und
Schaffen einer eigenen Welt, deren Kosmos sich aus Missverständnissen und
fröhlicher Aneignung zusammenbauen lässt: „Ich glaube an Gott, den
allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde, und an die Zwerge,
die in manchen Wäldern wohnen.“
Die anarchische Sprengkraft dieser Melange aus „Glauben und Wissen“, wie
ein Kapitel programmatisch überschrieben ist, macht die Autorität der
Erwachsenen nicht nur erträglich, sondern oft sogar unterlegen: „Ein Mann
muss erst studieren und geweiht werden, bevor er Priester wird. Der Vater
wusste nicht, dass Jutta Barbara geweiht hatte und umgekehrt, schon waren
sie in Männer und Priester verwandelt, im Namen des Vaters, des Sohnes, des
Heiligen Geistes, Amen.“
Dass diese Prägung einen Menschen ideal für die Kunst im Allgemeinen und
die erzählende im Besonderen disponiert, leuchtet ein. Im
anspielungsreichen Werk von Sabine Peters finden sich besonders deutliche
Spuren von Zitaten und Elementen aus biblischen Geschichten, Märchen und
allerlei anderen sprachlichen Bezugssystemen. Dass Kreativität und Fantasie
Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben, idealerweise sogar zu Freiheit
und Glück sind, kann man entsprechend legitim als Kernessenz von Sabine
Peters’ Roman lesen, ohne ihn überzuinterpretieren.
## Distanzierte Erzählinstanz
Sein Zauber besteht in der Art und Weise, wie Peters all die Gefahren
umgeht, die sich einstellen, will man die Welt aus Kindersicht darstellen.
Weder legt sie ihren Roman so an, dass sich eine Erwachsene an früher
erinnert, noch maßt sich sie an, in die Seele des kleinen Kindes schlüpfen
zu können und aus dessen Perspektive zu schreiben.
Vielmehr gelingt ihr das Kunststück, beides in Synthese zu leisten: Nie
lässt uns die konzentrierte Kunstsprache vergessen, dass hier eine
distanzierte Erzählinstanz am Werk ist, zugleich ist die Haltung des Kindes
absolut plausibel und stimmig – und vor allem geradezu universell: So war
das, als man ein Kind war, und zwar nicht nur in den sechziger Jahren.
Nicht zuletzt ist der Roman verdichtet und vielschichtig. Da gibt es kleine
Tableaus, die der Kern eines großen Gesellschaftsromans sein könnten – etwa
wenn die ökonomisch stets klamme Familie reiche Verwandte besucht, in deren
Ferienhaus in den Niederlanden man preiswert urlauben kann.
Da gibt es Szenen von einer verhaltenen Komik, wie sie Peters’ Bücher schon
immer auszeichnet. Und es gibt einen Nachklapp, dessen surrealistisches
Treiben dafür sorgt, dass wir uns nicht in der Illusion wiegen können, mit
dem Verständnis des Romans leichtes Spiel gehabt zu haben, ein
Mummenschanz, dessen absurde Späße Peters’ Plädoyer für die Autonomie der
Fantasie bündeln und auf die Spitze treiben.
Ob die Behauptung stimmt, dass wir in einer Hochzeit (auto-)biografischer
Literatur, all der Memoirs und Bekenntnisstücke, leben und lesen, sei
dahingestellt. Zweifellos aber sind die Bücher der 1961 geborenen, in
Hamburg lebenden Sabine Peters, die unbedingt ein größeres Publikum
verdient haben, eigenwillige Glanzlichter dieser Art von Literatur. „Wir
bewältigen unseren Alltag fast ohne das geringste Verständnis der Welt“,
hat der amerikanische Sachbuchautor Carl Sagan festgestellt. Sabine Peters’
hinreißender Roman illustriert und widerlegt diese Aussage: Ihre Bücher
zeichnet ein erhebliches Verständnis der Welt aus, sogar jener der
Erwachsenen.
17 Nov 2020
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## AUTOREN
Thomas Schaefer
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