# taz.de -- Roman „Johanns Bruder“: Eine Reise in das Vergessene | |
> In „Johanns Bruder“ beschreibt Autor und Schauspieler Stephan Lohse zwei | |
> ungleiche Männer. Zusammen machen sie sich auf, das Leben zu verstehen. | |
Bild: Erinnerung und Schuld: Adolf Eichmann auf einem Fernseher in den Sechzige… | |
Was passiert beim Schreiben, wenn die Hand sich über das Papier bewegt? | |
Geht der Inhalt dann anders durch Körper und Geist als bei der bloßen | |
Lektüre? Entstehen mehr Bilder, innere Kommentare, setzt sich die | |
Geschichte durch die handschriftliche Wiederholung anders im Gedächtnis | |
fest? Hilft das Aufschreiben, um zu begreifen? Oder dem Unerträglichen zu | |
begegnen? | |
Diese Fragen kann man sich bei der Lektüre des Romans „Johanns Bruder“ von | |
[1][Stephan Lohse] stellen. Denn Johanns Bruder Paul spricht nicht, er | |
schreibt. In der direkten Kommunikation auf einen Wunderblock, aber auch in | |
vielen Momenten auf Verpackungen, Quittungen, jedes greifbare Stück Papier. | |
Er ordnet sie in Stapeln, sortiert sie in Tüten und gräbt dieses Archiv | |
seiner Gedanken um und um wie ein Archäologe der eigenen Geschichte. | |
Paul schreibt über [2][Adolf Eichmann], über dessen Tarnungen nach 1945, | |
über die Sprache seiner Verteidigung in Jerusalem. Er schreibt über das | |
Foto eines kleinen Jungen, der als einziger seiner jüdischen Familie ein | |
Konzentrationslager überlebt hat und nach der Befreiung neben den Leichen | |
der Hingerichteten fotografiert wird. Er schreibt über ein Polizeibataillon | |
der Deutschen Wehrmacht, das für Massenerschießungen in Bialystok | |
verantwortlich war. | |
Er reicht diese Texte nach und nach seinem Bruder Johann, auf einer | |
seltsamen Reise, die beide zusammen unternehmen. Diese dokumentarischen | |
Texte zu lesen, ist hart, nicht nur für Johann, sondern für jeden Leser des | |
Romans. | |
Fast zwanzig Jahre lang haben sich Paul und Johann nicht mehr gesehen, als | |
der Roman beginnt. Als sie sich wiedertreffen, spielt die Suche nach | |
Erinnerung eine große Rolle. | |
## Der Vater bestrafte jede Abweichung | |
Johann, drogenverpeilt, hat vergessen oder vergessen wollen als Schutz vor | |
der Vergangenheit: den prügelnden, fanatisch religiösen Vater, der jede | |
noch so kleine Abweichung bestraft. Eine Mutter, die verschwunden ist. Ein | |
Bruder, der nicht spricht. Jetzt aber will Johann erinnert werden. Wieder | |
und wieder muss Paul ihm Zettel reichen, auf denen die Mutter beschrieben | |
ist. Das ist eine anrührende Geste, auch der Versöhnung. Denn jahrelang hat | |
sich Johann nicht um Paul gekümmert. | |
„Johanns Bruder“ ist der zweite Roman von Stephan Lohse, geboren 1964. Auch | |
in seinem Buch „Ein fauler Gott“, 2017 erschienen, ging es um eine Familie, | |
zwei kleine Brüder und um eine Geschichte von Trauer und Verlust. Es ist | |
emotional berührend, aber nie sentimental, wie Lohse nach und nach die | |
Geschichte von Johann und Paul aufblättert, aus beschädigten Fragmenten | |
zusammensetzt. | |
Die erfahrene Gewalt immer nur stückchenweise aufzudecken, ist eine gute | |
erzählerische Strategie, um die Tiefe der erlittenen Verletzungen ahnen zu | |
lassen. So wie ein Kind, das etwas, vor dem es sich fürchtet, nur durch | |
kleine Sehschlitze zwischen den Fingern der vor die Augen gehaltenen Hände | |
anschaut. | |
## Eine Reise als Bußübung | |
Die Brüder reisen unbequem, meist mit dem Bus durch kleine Dörfer, in denen | |
sie als Fremde auffallen, um möglichst nahe an einem Breitengrad zu | |
bleiben, der für Paul eine historische Verbindungslinie zwischen Orten der | |
nationalsozialistischen Verbrechen bildet. Vergangenheit ist für ihn | |
untrennbar mit der Topografie verbunden. Warum er von der Geschichte so | |
besetzt ist, dass er die gemeinsame Reise wie eine Bußübung gestaltet – man | |
kann sich als Leser nicht sicher sein. | |
Liegt es am katholischen Familienerbe? Ist es ein innerer Aufstand gegen | |
die bundesrepublikanische Verdrängungsleistung? Beruht es auf der | |
Wiederkehr von nationalsozialistischen Gedanken in der Gegenwart? Aber mit | |
dem Schlingern zwischen diesen Optionen hat man die Antwort vielleicht | |
schon gefunden. Es ist der Versuch, sich einer Geschichte zu stellen, mit | |
der man nicht fertig werden kann. | |
## Beobachtungen an Bushaltestellen | |
Den ungleichen Brüdern durch die deutsche Provinz zu folgen, ist eine | |
lohnende Lesereise. Mit feinem Humor widmet sich Stefan Lohse Beobachtungen | |
des Alltäglichen an Bushaltestellen, Supermarktparkplätzen, in Pensionen. | |
Für Johann ist es auch eine Reise weg vom Liebeskummer, von der Bestürzung | |
über sein zielloses Leben, der Enttäuschung über sich selbst. Paul wird | |
zwar auf der einen Seite als Autist beschrieben, ist andererseits aber der | |
stabilere von beiden. Oft überrascht er seinen Bruder durch seine Klugheit | |
in der Einschätzung der ihnen begegnenden Menschen. Damit erhalten die | |
Episoden ihrer Reise viel Farbe. | |
29 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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