| # taz.de -- Roman über das beginnende Alter: Der Viagra-Mann, die Palliativbet… | |
| > Die Rushhour des Lebens ist abgehakt – und dann? Die Schriftstellerin | |
| > Sabine Peters beschreibt in ihrem neuen Roman „Die dritte Hälfte“ des | |
| > Daseins. | |
| Bild: Wenn der Abend hereinbricht: John Constable „Study of Clouds – Evenin… | |
| Sabine Peters hat einen leichten, slapstickartigen Witz, der in Deutschland | |
| weniger beheimatet ist und eher aus dem Britischen zu stammen scheint. | |
| [1][Ihre Romane] sind denn auch oft an der Nordsee angesiedelt, da gibt es | |
| atmosphärisch andere Schwingungen. | |
| In „Die dritte Hälfte“ widmet sie sich einem Sujet, das generell ziemlich | |
| unterbelichtet ist, weil es normalerweise mit großer Schwere und Tiefe | |
| daherkommt: dem Alter, oder speziell dem beginnenden Alter. | |
| „Doc“, die Hauptfigur, ist praktischer Arzt und sitzt Tag für Tag in seinem | |
| Sprechzimmer, wo die gesamten Malaisen der Gegenwart an ihm vorüberziehen | |
| und vorzugsweise Alte über wirkliche und eingebildete Beschwerden klagen – | |
| ein Spiegel dessen, das wird allmählich klar, was auch in ihm selber | |
| vorgeht. | |
| Das Ensemble dieses gleichermaßen witzigen wie weisen Romans tritt bereits | |
| auf den ersten Seiten vollständig in Erscheinung. Es ist ein Panoptikum, in | |
| dem die Figuren zunächst skizzenhaft, fast wie in karikierenden Zeichnungen | |
| vorgeführt werden, eine Draufsicht ohne vordergründige Psychologie. | |
| Binnensicht als Romanelement | |
| Docs Freund Bruno Brumlik, genannt „der Brummer“, vergleicht einmal Doc und | |
| sich selbst mit dem Personal in Douglas Adams’ Thriller „Per Anhalter durch | |
| die Galaxis“ und stellt fest: „Da war fix was in Bewegung, anders als bei | |
| uns. Bei uns entwickelt sich nicht viel, sieh uns doch an! Wir sitzen hier, | |
| umschwebt von Denk- und Sprechblasen. Wir sind wie Bilder. Wir sind eine | |
| stehende Malerei.“ Und genau mit dieser Binnenansicht ihrer Figuren spielt | |
| die Autorin Sabine Peters unentwegt. Das ist etwas anderes als das übliche | |
| Plot-Konstruieren. | |
| Freund Brummer ist Kunsthistoriker, seine Scheidung liegt lange zurück, und | |
| wenn er über seinen Aufsatz über den englischen Maler Constable nachdenkt | |
| oder in der Hamburger Kunsthalle über ästhetische Wahrnehmungsmuster | |
| räsoniert, geht das auch den Roman selbst an, in dem er vorkommt. | |
| Docs Frau ist vor einiger Zeit gestorben. Neben ihm wohnt die ebenfalls an | |
| der Schwelle zum Rentenalter befindliche Mechthild, mit der er alle zwei | |
| Wochen sonntags einen Film schaut und die mit ihrem Sohn Kilian und dessen | |
| Freundin Lena auch Elemente der jüngeren Generation mit ins Spiel bringt, | |
| das führt zu irrlichternden Effekten. | |
| Und auch Christine, der gute Geist der Arztpraxis, die Doc den Rücken | |
| freihält, ist eine wichtige weibliche Bezugsperson – ohne dass Sexualität | |
| ein ausgesprochenes Thema wäre. Denn es geht eben um Bilder aus jener erst | |
| einmal etwas skurril anmutenden, aber durchaus konkret existierenden | |
| Schattenwelt, in der sich ein beträchtlicher Prozentsatz der Bevölkerung | |
| tummelt: Da ist das jugendliche Ungestüm längst abgehakt, die Wirbel der | |
| Rushhour des Lebens zwischen 35 und 55 auch, und allmählich tritt das | |
| zunächst [2][fast unmerklich nahende Ende ins Blickfeld.] | |
| Füreinander unverzichtbar | |
| Ein- oder zweimal im Jahr besucht der in Bonn lebende Brummer den Doc in | |
| Hamburg, und sie variieren dabei das Grundgefühl, dass sie sich eh alles | |
| schon gesagt haben, was sie zu sagen haben. Gerade deshalb sind sie | |
| füreinander unverzichtbar. | |
| Im weiteren Verlauf des Textes bekommen sie immer genauere Konturen, und es | |
| entsteht gegen Ende sogar eine spezielle Dynamik, mit surreal wirkenden | |
| Aufschwüngen, die hautnah realistisch bleiben. Den Reiz des Romans bilden | |
| überhaupt die einzelnen, rasant einander ablösenden Szenen, die in ihrer | |
| absurden Komik, ihrer lustvoll verzerrten Wirklichkeit und ihren scharf | |
| umrissenen Personenskizzen etwas Bizarres und Märchenhaftes haben, aber | |
| gleichzeitig eine sehr differenzierte Gesellschaftsstudie bilden. Ihr | |
| Geheimnis ist, dass sie satirisch und melancholisch zugleich sind. | |
| Da ist der Viagra-Mann, der in die Sprechstunde kommt und sein drohendes | |
| Erschlaffen mit kruden Auto- und Gaspedal-Vergleichen zu bannen versucht, | |
| da sind die vertrackten Modalitäten einer Palliativbetreuung, die mit einem | |
| undurchsichtigen Abrechnungshickhack einhergeht, oder auch der Moment in | |
| einem wieder auf offener Strecke zum Halt gekommenen ICE, in der der | |
| Brummer mit einer gleichaltrigen weiblichen Person Kontakt aufzunehmen | |
| versucht und sich in Insektenmetaphern verliert. | |
| Sehnsuchtsbilder im Schrebergarten, abgelegte Gegenstände im Keller, in | |
| denen sich die Biografie verdichtet, oder versonnene Dialoge verweisen | |
| dabei immer auch auf eine Tiefendimension. Die „dritte Hälfte“ des Lebens, | |
| auf die der Titel Bezug nimmt, ist eine unsichere Größe, sie entzieht sich | |
| allen Berechnungen. Ein vielschichtiger Roman, der abgründig funkelt. | |
| 8 Nov 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Helmut Böttiger | |
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