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# taz.de -- Neuer Roman von Olga Grjasnowa: Das ererbte Schweigen mit Fiktionen…
> Bisher lehnte Olga Grjasnowa Kategorien wie Identität scharf ab. In ihrem
> aktuellen Roman „Juli, August, September“ scheint sich das Blatt zu
> wenden.
Bild: Olga Grjasnowa löst mit ihren Werken immer wieder Debatten aus
[1][Olga Grjasnowas] fünfter Roman „Juli, August, September“ beginnt mit
Alltagsszenen aus dem Leben einer Mutter namens Lou. Die promovierte
Kunsthistorikerin, die ein Buch über Aids in der New Yorker Kunstszene
schreibt und deren Biografie Ähnlichkeiten mit der der Autorin erkennen
lässt, weiß mit ihrer jüdischen Herkunft nichts anzufangen.
Als ihre kleine Tochter, die nach der verstorbenen Urgroßmutter Rosa
benannt ist, die in der Sowjetunion den Holocaust überlebte, bei einer
Kindergartenfreundin aus einer Graphic Novel über Anne Frank vorgelesen
bekommt, beginnt das Mädchen zu heulen und will nach Hause. Die genervte
Lou, der die verstörte kleine Tochter berichtet, es habe sich um ein Buch
über Adolf Hitler gehandelt, hat den Band bereits vorher bei der bekannten
Familie herumliegen gesehen und sich zusammenreißen müssen, nicht gleich
die Augen zu verdrehen.
Anderntags fährt die in Berlin lebende Lou zu einer Buchhandlung und liest
das unterkomplexe Bilderbuch, das „nicht einmal eine vage Vorstellung vom
Holocaust vermitteln“ kann, noch im Stehen am Bücherregal durch. Sie starrt
fassungslos auf die Darstellung Anne Franks: Das weltweit wohl bekannteste
Schoah-Opfer sieht aus „wie eine Mischung aus einer Manga-Figur und einer
stilisierten Audrey-Hepburn-Postkarte“. „Das KZ kam nur am Rande vor und
hätte auch ein Sanatorium sein können.“
## Gegen jede Trivialisierung
Wie eine routinierte Literaturkritikerin rekapituliert Lou in dieser
Anekdote die Problematik globaler Trivialisierungen des Holocaust in
publikumswirksamen Formaten wie John Boynes Roman „Der Junge im gestreiften
Pyjama“ (2006, verfilmt 2009). Schlecht gemachte Kinderbücher sind aber
nicht Lous einziges Problem.
Wir erfahren, dass sich ihr jüdischer Mann, der ambitionierte Pianist
Sergej, in sie verliebt habe, obwohl Lou aus Sicht ihrer Schwiegermutter
„nicht annähernd gut genug“ für ihn sei. „Vielleicht lag es daran, dass…
wie eine Schickse aussah, aber keine war“, bemerkt Lou dazu lakonisch.
Hier gibt es weitere Wiedererkennungseffekte: Auch Masha, Protagonistin in
Grjasnowas Debüt „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012), wird von
ihrer Cousine in Israel mitgeteilt, dass sie gar nicht jüdisch aussähe.
Andererseits befasst sich Lou intensiver mit ihrer Identität im Land der
NS-Täter als Masha, die wie sie ebenfalls aus Baku stammt: „Die
Geburtsurkunde meiner Mutter, in der die Nationalität als jüdisch vermerkt
war, war jedenfalls in Ordnung.“
## Beißender Spott
Gleich am Anfang diskutiert Lou mit ihrem Mann darüber, ob und wie man nun
die Tochter ans Judentum heranführen solle, da sie „noch nie eine Synagoge
von innen gesehen“ habe. Zur Frage, wer er und Lou eigentlich seien,
scherzt Sergej: „Zumindest keine Konvertiten aus SA-Familien.“
Diese Dialoge wirken wie Insider-Witze über aktuelle Debatten um jüdische
Identitäten in Deutschland, wie dem Streit um den Status sogenannter
Vaterjüdinnen und -juden wie Mirna Funk und Max Czollek oder den Versuch
von Nachkommen der NS-Tätergeneration, die schuldbeladene eigene Herkunft
durch eine Konversion oder eine sogar nur angemaßte jüdische Identität
abzustreifen (man erinnert sich an die Fälle von Benjamin Wilkomirski,
Marie Sophie Hingst oder Fabian Wolff).
Dazu gibt Lou über Ihre weitverzweigte Familie an: „Wir alle hatten den
Eintrag ‚Jude‘ in unserer Geburtsurkunde oder in unseren Pässen gehabt,
aber es gab kaum Traditionen, die übrig geblieben wären. Unser Judentum war
eine kulturelle Performance, und selbst die war nicht besonders gut.“
## Umstrittene Kategorien
Damit kann man „Juli, August, September“ als Wende im bisherigen Werk Olga
Grjasnowas bezeichnen. Deren bisheriges Markenzeichen bestand darin,
umstrittene Kategorien wie Identitäten (führen bloß zu Bürgerkriegen und
Pogromen), Migrationsliteratur (ein rassistisches und paternalistisches
deutsches Label für Autor*innen mit seltsam klingenden Namen) oder Heimat
(ein Albtraum) [2][scharf abzulehnen.]
Im neuen Roman liegen die Dinge jedoch komplizierter: Lou reist zwar wie
Grjasnowas Debüt-Protagonistin nach Israel, sucht dort aber dezidierter als
Masha nach den Brüchen in ihrer Familiengeschichte vor 1945. Lou versucht,
einem vermuteten Konflikt zwischen ihrer toten Großmutter und deren in Tel
Aviv lebender Schwester Maya auf die Spur zu kommen und konsultiert dafür
sogar das Archiv von Yad Vashem.
Grjasnowas Debütroman klang im Blick auf Israel distanzierter und löste
eine breite internationale literaturwissenschaftliche Rezeption aus, die in
den anglophonen German Studies zu einer Betonung einer „Worldliness“
(Stuart Taberner) der Werke dieser Autorin führte. Demnach galt Grjasnowa
als Vermittlerin „welthaltiger“ Themen wie Queerness, dem Othering und
Rassismus gegenüber Deutschen, die stereotyp als Muslime gesehen und
diskriminiert werden, oder der prekären Migration von Syrien nach Europa
(in „Gott ist nicht schüchtern“, 2017).
## Kolonisierung des Kaukasus
Mit ihrem historischen Roman „[3][Der verlorene Sohn“ (2020),] einem
Schmöker, der von der russischen Kolonisierung des islamischen Kaukasus und
damit erneut einem „nicht-jüdischen“ Thema handelt, mitsamt einem
muslimischen Protagonisten, der sich zwischen russischer Assimilation und,
tja, dem Dschihad für das Volk seines Vaters Imam Shamil entscheiden muss,
schien dieser schillernde Ruf Grjasnowas endgültig gefestigt.
Doch die Autorin bleibt für Überraschungen gut. Seit vorigem Jahr
Professorin für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in
Wien, verblüfft Grjasnowa nun also nach dem Trauma des Hamas-Massakers vom
7. Oktober 2023 mit einer Art Sequel zu „Der Russe ist einer, der Birken
liebt“, wobei „Juli, August, September“ als eine waghalsige Kombination a…
Pauschalurlaubs-Familienfest-Komödie mit Schauplatz Gran Canaria und einem
Traumaroman aus Tel Aviv, Haifa und Jerusalem daherkommt.
Das erste Thema wird verschenkt: All-inclusive-Hotel-Klischees wie mieser
Buffet-Fraß, wässrige Drinks und gewisse Massentourismus-Nationen, deren
Bürger frühmorgens die Liegen am Pool mit Handtüchern besetzen, sind zum
Abwinken.
## Spontane Erzählung
Hervorzuheben ist dagegen die Erinnerung der Großmuttergeneration, die sich
auf dem kanarischen Hotelbalkon beim Billigwein aus dem Supermarkt mit
einer spontanen Erzählung von Lous Mutter zu entfalten beginnt und dazu
führt, dass die Protagonistin der gerade 90 gewordenen Großtante Maya nach
Israel hinterherfliegt, um sie mit mäßigem Erfolg nach ihrem Verhältnis zu
ihrer Großmutter auszufragen.
Rosa und Maya wurden von ihrer offenbar psychotischen Mutter Hannah, die,
einem historischen Foto nach zu urteilen, genauso aussah wie Lou, auf der
Flucht vor der in der Sowjetunion vorrückenden Wehrmacht als junge Mädchen
sich selbst überlassen. Ihr Vater wurde aufgrund eines verspätet
zugestellten Einberufungsbescheids der Roten Armee, der ihn wie ein
Deserteur aussehen ließ, verhaftet und erschossen.
Dieser Teil des Romans birgt für ein deutschsprachiges Publikum unerhörte
Perspektiven. Er erzählt aus Sicht der jüdischen sowjetischen
Zivilbevölkerung vom Beginn des NS-Vernichtungskriegs und der überstürzten
Flucht der Familie aus dem weißrussischen Ort Gomel, bis die beinahe
verhungerten Schwestern Rosa und Maya im aserbaidschanischen Baku bei einem
Onkel ein sicheres Refugium finden. Ähnlich wie die vom deutschen Publikum
nach 2012 kaum wahrgenommene Pogrom-Passage über den Bergkarabach-Konflikt
in Grjasnowas Debüt ist der Teil allerdings nur kurz.
## Geschichte mit Lücken
Doch Lous Familiengeschichte muss lückenhaft bleiben. Ihre Großmutter, die
diese in ihren Darstellungen zeitlebens manipulierte, ist längst tot und
hat kaum Dokumente hinterlassen. Maya, die sich danach selbst ins Zentrum
der Überlebensgeschichte zu rücken und ihre Schwester, die konkurrierende
Lieblingstochter ihres Vaters, an den Rand zu drängen versuchte, lässt sich
kaum noch zum Reden bewegen.
Das ist jene typische Konstellation, die die US-amerikanische
Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch mit ihrem Begriff Postmemory
umschrieb: Die dritte Generation nach der Schoah beginnt, das Schweigen der
traumatisierten Schoah-Überlebenden aus der eigenen Familie mit Fiktionen
zu füllen.
Es sind ausfantasierte Vermutungen, die sich um wenige übriggebliebene
Dokumente und Fotografien zu gruppieren beginnen, um den Ursprung des
verschwiegenen Familientraumas erzählbar zu machen. [4][Katja Petrowskajas]
Roman „Vielleicht Esther“ (2014) ist ein früheres, bereits kanonisiertes
Beispiel für ein solches selbstreflexives, autobiografisches
Post-Holocaust-Erzählen. Es handelt sich um ein Schreiben, das offensiv mit
der Notwendigkeit umgeht, das, was passiert sein könnte, zu erfinden und
damit das Unerzählbare erzählbar zu machen.
Olga Grjasnowas „Juli, August, September“ reiht sich nun also ein ins Genre
einer (autofiktionalen) Postmemory-Literatur. Zugleich, und das ist typisch
für Grjasnowa, die auf derartige Einordnungen allergisch reagiert,
ironisiert der Roman die Identitätssuche der Protagonistin durch jenen
pointierten Sarkasmus, den man auch schon aus ihrem Erstling kennt. Am Ende
ist die Protagonistin kaum klüger als zuvor. Alles andere wäre aber auch
unpassend: Geschlossene Erzählungen mit einem befriedigenden, klaren Ende
gibt es nur in Büchern, die ihre Heldinnen wie eine Audrey Hepburn mit
Manga-Augen aussehen lassen.
4 Nov 2024
## LINKS
[1] /Autorin-ueber-unnuetze-Identitaeten/!5392032
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[4] /Katja-Petrowskaja-ueber-Erinnerung/!5045452
## AUTOREN
Jan Süselbeck
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