| # taz.de -- Kollektiv über Sex und Scham nachdenken: Verbindungen gegen die Ei… | |
| > In „Wir kommen“ schreiben 18 Autor*innen sehr offen über Sex. Es geht | |
| > um die Bejahung von Begehren und Lust, aber auch um Scham und | |
| > Verletzungen. | |
| Bild: Sex? Aufklärung? Scham? Schauen wir auf ein Paarungstandem der Becher-Az… | |
| Die Versuchsanordnung für dieses Schreibexperiment ist ungewöhnlich: 18 | |
| Autor*innen mehrerer Generationen – zwischen dreißig und achtzig Jahren | |
| alt – und unterschiedlicher Herkunft tauschen sich sechs Wochen lang in | |
| einem einzigen Onlinedokument über Begehren, Sex und Alter aus, und zwar | |
| anonym. Keine*r konnte erkennen, wer was schreibt. Die Idee hatte das | |
| feministische Literaturkollektiv Liquid Center, bestehend aus den | |
| Autorinnen Julia Wolf, Verena Güntner und Elisabeth R. Hager. | |
| 15 der angefragten Kolleg*innen sagten zu. Dabei sind bekannte Namen wie | |
| [1][Ulrike Draesner], [2][Olga Grjasnowa] oder [3][Kim de l’Horizon], aber | |
| auch „Newcomer*innen“ wie [4][Yade Yasemin Önder] oder [5][Simoné | |
| Goldschmidt-Lechner]. Es geht um die Perspektive von Frauen, aber auch | |
| nonbinärer und nicht männlich gelesener Menschen. | |
| Unter dem Titel „Wir kommen“ liegt das Ergebnis nun vor. 300 | |
| Manuskriptseiten haben die Herausgeberinnen von Liquid Center dafür | |
| bearbeitet, umsortiert, verdichtet, so Julia Wolf in einem Interview. Unter | |
| Kapitelüberschriften wie „Schlimme Finger“, „Beurteilungsmaschine“ oder | |
| „Unberührt I“ kristallisieren sich thematische Aspekte wie Pubertät, | |
| Masturbation, die Beurteilungen des Körpers von außen oder sexuelle Gewalt | |
| heraus. | |
| Die Form der Beiträge ist vielfältig. Es gibt poetische Prosaminiaturen, | |
| Gedichte, experimentelle Worterkundungen, die dem Thema in dezidiert | |
| literarischer Gestaltung begegnen. Aber auch viele Passagen, die die | |
| eigenen Erfahrungen direkt mitteilen. | |
| ## Dem Ungelösten Raum verschaffen | |
| Das Bedürfnis danach ist spürbar groß: „ich will einfach aussprechen, dem | |
| Schmerz /dem Ungelösten Raum verschaffen. Den er/es ja sonst kaum hat“, | |
| schreibt eine*r. | |
| Die Schreibenden reagieren oft unmittelbar aufeinander, befragen sich, | |
| ergänzen einander. Lassen sich aber auch assoziativ anregen. Beeindruckend | |
| sind die zutage tretende Offenheit, die Intimität und damit einhergehende | |
| Verletzlichkeit, die so wohl nur in diesem Schutzraum der Anonymität | |
| möglich waren, der zugleich ein empathischer Resonanzraum ist. | |
| Manche Texte betrachten die Kontinuität patriarchaler Verhältnisse, | |
| verknüpfen sie mit den persönlichen Erlebnissen. Es gibt die Bejahung von | |
| [6][Sexualität], die hingebungsvolle Lust, die positiven Erfahrungen. Und | |
| doch überwiegt das Schmerzhafte. So oft ist von „Scham“ die Rede – und | |
| zwar, das ist trotz Anonymität erschließbar, in jedem Alter. | |
| Scham angesichts der (ersten) Menstruation; angesichts der eigenen Lust, | |
| die zu viel oder zu wenig ist; Scham über den ungenügenden jungen wie den | |
| „nicht mehr zumutbaren“ alternden oder alten Körper; angesichts der | |
| empfundenen geschlechtlichen Uneindeutigkeit; Scham nach erlittenen | |
| [7][sexuellen Übergriffigkeiten] bis hin zu Vergewaltigungen. | |
| ## Gemeinsam einen Resonanzraum finden | |
| „Damals half mir das Schreien, heute hilft mir das Schreiben“, notiert | |
| eine*r und fährt fort: „Doch erst wenn wir nicht mehr alleine schrei(b)en, | |
| allein mit unserer Scham, werden die Verhältnisse sich ändern.“ Hier wird | |
| eine Erkenntnis des Schreibexperiments berührt: Sichtbar wird in den vielen | |
| Einzelstimmen und bei aller Individualität doch das Gemeinsame vieler | |
| Erfahrungen. Darin wiederum liegt der politische Impuls des Buches. | |
| Witz und Ernst, manchmal Trauer, liegen zuweilen dicht beieinander, auch | |
| wenn es um das Älterwerden geht. „Liebes Orakel, wann werde ich wieder Sex | |
| haben?“, fragt jemand, worauf als Reaktion „Gibt es denn ein Recht auf | |
| Sexualität?“ folgt und dann: „Es gibt kein Recht auf einen anderen Körper… | |
| Ob die Bezeichnung Kollektivroman – Betonung auf Roman – für die Form | |
| tatsächlich treffend ist, ist zweitrangig. Entscheidend ist der Reiz, | |
| welchen die auch sprachlich immer wieder originelle Lektüre bietet. Der | |
| Sog, der sich beim Lesen der aufeinanderfolgenden Beiträge einstellt, | |
| dürfte für viele Leser*innen darin bestehen, dass sie in gewisser Weise | |
| eintreten können in den Resonanzraum, den die Schreibenden untereinander | |
| geschaffen haben. Dass auch sie eine Verbindung herstellen und damit das | |
| Alleinsein mit ihren Erfahrungen zu einem gewissen Grad aufheben können. | |
| Das ist ziemlich viel. | |
| Mehrfach wird im Buch die Frage gestellt, wie mit einer Sprache, der die | |
| Gewalt, das Trennende, die Binarität eingeschrieben seien, überhaupt über | |
| das eigene Begehren zu sprechen sei. Das vielschichtige, differenzierte, | |
| viele genaue Beobachtungen aufblätternde literarisch-biografische Gespräch, | |
| das aus diesem Schreibexperiment erwachsen ist, ist selbst Teil einer (auch | |
| stärkenden) Antwort. | |
| 6 Aug 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Hamburger-Verlegerin-Halina-Simon/!6017504 | |
| [2] /Neuer-Roman-von-Olga-Grjasnowa/!5725963 | |
| [3] /Maennlichkeit-Krieg-und-ganz-viel-Liebe/!5901636 | |
| [4] /Debuetroman-ueber-dysfunktionale-Familie/!5852140 | |
| [5] /Roman-Messer-Zungen-ueber-Suedafrika/!5871358 | |
| [6] /Sex-mit-Folgen/!5840182 | |
| [7] /Sexuelle-Uebergriffe-verjaehren-nicht/!5979266 | |
| ## AUTOREN | |
| Carola Ebeling | |
| ## TAGS | |
| Kollektiv | |
| Literatur | |
| Sexualität | |
| Scham | |
| Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
| Sprache | |
| Social-Auswahl | |
| Das Leben einer Frau | |
| Serien-Guide | |
| Olga Grjasnowa | |
| wochentaz | |
| Schwerpunkt LGBTQIA | |
| Literatur | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Soziologin über Heranwachsende: „Scham hat ein Geschlecht“ | |
| Wieso ist Teenagern so vieles peinlich? Und wann geht es eigentlich los mit | |
| dem Gefühl? Soziologin Karin Flaake über den zweifelhaften Nutzen von | |
| Scham. | |
| ARD-Serie „30 Tage Lust“: „Was, wenn du eigentlich auf etwas ganz anderes… | |
| „30 Tage Lust“ zeigt Nähe und Distanz in einer Partnerschaft, die Neues | |
| wagt. Es geht um Datingapps und einen Dreier mit den Nachbarn. | |
| Neuer Roman von Olga Grjasnowa: Das ererbte Schweigen mit Fiktionen füllen | |
| Bisher lehnte Olga Grjasnowa Kategorien wie Identität scharf ab. In ihrem | |
| aktuellen Roman „Juli, August, September“ scheint sich das Blatt zu wenden. | |
| Autor Jon Savage über Pop und LGBTQ: „Das Androgyne sprach mich sehr an“ | |
| Der britische Autor Jon Savage beschreibt in „The Secret Public: How LGBTQ | |
| Resistance Shaped Popular Culture“ die Geschichte der Queerness im Pop. | |
| Film über männliche Sexarbeit: Schwul sind immer nur die Kunden | |
| In Berlin bieten männliche Sexarbeiter ihre Dienste an. Filmemacher Biko | |
| Julian Voigts erzählt über deren Arbeit in seinem Kurzfilm „Boys Club“. | |
| Buch „Auf allen Vieren“ von Miranda July: Wache halten am heiligen Ort | |
| Miranda July schreibt über eine weibliche Identitätskrise. Sie erzählt von | |
| einer Frau, die in der Lebensmitte versucht, ihre Libido zu verteidigen. |