# taz.de -- Autor Jon Savage über Pop und LGBTQ: „Das Androgyne sprach mich … | |
> Der britische Autor Jon Savage beschreibt in „The Secret Public: How | |
> LGBTQ Resistance Shaped Popular Culture“ die Geschichte der Queerness im | |
> Pop. | |
Bild: Disco-Sänger Sylvester, ca. 1980 | |
taz: Herr Savage, in „The Secret Public: How LGBTQ Resistance Shaped | |
Popular Culture“ beschreiben Sie, wie queere Kultur die Popmusik von den | |
1950ern an prägte. Liegt da der Kern von Pop? | |
Jon Savage: Der queere Subtext trug sicher zum Reiz von Popmusik bei – | |
gerade für die heterosexuelle Jugend, die nicht den gängigen Vorstellungen | |
folgen wollte, wie ein Mann oder eine Frau jeweils zu sein hat. Wer sich | |
mit Popkultur beschäftigte, stieß unweigerlich auf LGBTQ-Themen. | |
taz: Wurden dank Pop auch einige Vorurteile über Queerness entkräftet? | |
Savage: Im ersten Jahrzehnt, von dem das Buch handelt – meiner eigenen | |
Kindheit in den 1950er Jahren – war Popkultur etwas für Hardcore-Fans. | |
Danach wurde das offenkundig anders. Damals interessierten sich Leute für | |
Pop, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen. In der repressiven | |
britischen Gesellschaft jener Zeit fanden diejenigen ihren Platz im Pop, | |
die etwas Kreatives machen wollten oder einfach rebellisch waren. Ein | |
anderer Umgang mit Sexualität und Geschlechterfragen war Teil davon. Voran | |
kam die queere Emanzipation wohl durch ein Zusammenspiel aus Hard Power, | |
also politischem Aktivismus, und kultureller Soft Power. | |
taz: Was interessiert Sie daran? | |
Savage: Mich interessiert, wie beides ineinandergriff. Was politische | |
Akteure erreichten, aber auch, wie Geschlechterbilder sich manifestierten: | |
in der Kleidung, in Filmen, vor allem aber in der Musik. | |
taz: Sie sind selbst schwul. Erinnern Sie sich an einen Aha-Moment, dass | |
Pop da zu ihnen spricht? | |
Savage: Als Elfjähriger sah ich die Kinks 1964 im Fernsehen mit „You Really | |
Got Me“. Ich dachte, der Gitarrist Dave Davies sei ein Mädchen, wegen | |
seiner superlangen Haare. Als ich herausfand, dass dem nicht so ist, wurde | |
es interessant für mich. Jungs können so aussehen? Fantastisch! Das | |
Androgyne der Sixties-Bands hat mich sehr angesprochen, ob nun bei den | |
Beatles, den Rolling Stones oder den Yardbirds. Gerade in den mittleren | |
1960er Jahren hatten viele Bands inhaltlich verdichtete Botschaften, sehr | |
zukunftsorientiert. Zugleich waren diese Bands sehr populär. Dass das | |
zusammentraf, war in der Popgeschichte ungewöhnlich. | |
taz: Man begegnet in Ihrem Buch aber auch Künstler:innen, die eher am Rande | |
stehen, aber durchaus zentral für eine neue Ästhetik waren. Etwa dem | |
halbtauben US-Sänger Johnny Ray, der Anfang der 1950er mit seinem höchst | |
emotionalen Gesangsstil berühmt wurde und wegen seiner Bisexualität in den | |
Fokus der Boulevardpresse geriet. Was war Ihr Highlight bei der Recherche? | |
Savage: Toll war es, mich in die frühe Disco-Ära zu vertiefen. Davon habe | |
ich seinerzeit wenig mitbekommen, weil ich so sehr in Punk involviert war. | |
Disco wurde über die vergangenen 20 Jahre zu meiner großen Liebe. Am | |
meisten Spaß macht mir der afroamerikanische Sänger Sylvester, dem wir den | |
Song „You Make Me Feel (Mighty Real)“ verdanken. | |
taz: In der Einleitung erwähnen Sie, dass Sie als Popjournalist Ihre | |
Sexualität zunächst verschwiegen haben, selbst bei einer befreundeten | |
Kollegin – obwohl sie lesbisch war. Hielt man sich in der Punk-Blase für so | |
progressiv, dass man über so etwas nicht reden musste? | |
Savage: Nein, nein, das war eher verinnerlichte Homophobie. Zu meinem | |
Bedauern hatte ich wenig mit der schwulen Szene zu tun und war auch nicht | |
mit schwuler Politik vertraut. Ich wusste, dass es diese Dinge gab, war dem | |
aber wohl zu entfremdet. Deswegen war es ein Anliegen, über den Gitarristen | |
Tom Robinson zu schreiben. Er brach schon 1979 die Mauer des Schweigens, | |
als Künstler wie auch als Aktivist. Mir ging es mit dem Buch nicht zuletzt | |
darum, anzuerkennen, wie wichtig politisches Handeln ist. | |
taz: Aber auch Punk wollte die Verhältnisse doch auf den Kopf stellen. | |
Savage: Punk war neu. Und tatsächlich haben Siouxsie and the Banshees, die | |
[1][Frauenband The Slits] und auch [2][Wire] frische Ideen in die Welt | |
gebracht, wie junge Leute, ob weiblich oder männlich, sein können. Das war | |
großartig. Doch das Machohafte bei den Stranglers fand ich eher erbärmlich | |
– weil daran nichts neu war. Als ich The Clash Anfang 1976 bei einem ihrer | |
ersten Auftritte sah, waren sie verletzliche Jungs in selbst genähten | |
Klamotten. Das war interessant. Nicht, dass ich persönlich Probleme in der | |
Punkszene gehabt hätte, weil ich schwul bin. Doch es war allgemein eine | |
gewalttätige Zeit – so gesehen bemerkenswert, dass so viel Interessantes | |
daraus entstand. | |
taz: 2006 haben Sie mit „Queer Noises – 1961–1978 From the Closet to the | |
Charts“ eine Compilation zu dem Thema herausgebracht. Haben Sie da schon an | |
das Buch gedacht? | |
Savage: Mit Recherche und Niederschrift habe ich 2019 begonnen. Ich musste | |
mich seinerzeit dringend von den trüben politischen Verhältnissen in | |
Großbritannien und dem Brexit, dieser Riesendummheit, ablenken. Nachgedacht | |
hatte ich über das Thema vermutlich schon fast 20 Jahre – was es einfacher | |
machte, beim Schreiben Entscheidungen zu treffen. Die Compilation war eine | |
Art Demotape. | |
taz: [3][David Bowie] markierte mit seinem Outing Anfang 1972 den Moment, | |
in dem das, was unterschwellig brodelte, an die Oberfläche kam – auch wenn | |
die Entkriminalisierung da bereits Jahre zurücklag. | |
Savage: Es war genau viereinhalb Jahre nach dem Sexual Offences Act von | |
1967. | |
taz: Erstaunlich, dass man bei Ihnen noch Neues zu Bowie lesen kann. Man | |
denkt ja, da sei alles gesagt | |
Savage: Ich hatte das Glück, dass Michael Watts, ein befreundeter Kollege, | |
mir Zitate aus einem unveröffentlichten Interview mit ihm überließ. Ich | |
betrachte Bowie durch das Prisma von Homosexualität und gehe bis Mitte der | |
1960er Jahre zurück. Auch wenn über Bowie schon sehr viel geschrieben | |
wurde, ist erhellend, sich auf einer Zeitschiene nur auf dieses Thema zu | |
fokussieren. Schon 1970 gab er einem Schwulenmagazin namens Jeremy ein | |
Interview. 1971 finanzierte er eine Benefizveranstaltung der | |
Schwulenbewegung. Durch seinen Freundeskreis war er informiert, was in der | |
Szene passierte. Und wollte wohl auch seine schwulen Freunde nicht im Stich | |
lassen. Bei seinem Outing ging es offensichtlich darum, Aufmerksamkeit | |
erregen – was in Ordnung ist. Interessant war, dass Bowie nach seinem | |
Bekenntnis extrem erfolgreich wurde. Das widerlegte die gängige Meinung, | |
dass man so seine Karriere killt. Stattdessen wurde er 1973 zur größten | |
Sache im britischen Pop. | |
taz: 1983 nahm er sein Outing in einem Interview mit dem Rolling Stone | |
zurück – war das einem veränderten Zeitgeist, einem Backlash | |
geschuldet?Savage: Ehrlich gesagt, ist mir das egal. Mich persönlich hat er | |
damit nicht enttäuscht. Er war schließlich kein Politiker, sondern | |
Popsänger. Für das Buch war das irrelevant, weil es außerhalb des | |
Zeitrahmens liegt. Wie er sich in den frühen Siebzigern positioniert hat, | |
war sehr mutig. | |
taz: Was bedeutet „queer“ heute? Gerade jüngere Leute beziehen den Begriff | |
nicht unbedingt auf Sexualität, sondern beschreiben damit eher ein | |
Unbehagen mit Geschlechtergrenzen. | |
Savage: Das ist grundsätzlich eine gute Entwicklung. Meine Güte, wie | |
entspannend, nicht mehr darüber reden zu müssen, wer mit wem ins Bett geht. | |
Doch leider müssen diese Dinge gesagt werden, weil es Menschen gibt, die | |
Minderheiten angreifen und verfolgen – auch wegen ihrer sexuellen | |
Orientierung. | |
taz: Sie haben sich mit der Entwicklung auf beiden Seiten des Atlantiks | |
beschäftigt. Die USA und Großbritannien waren seinerzeit die produktivsten | |
Popnationen. Aber es ging Ihnen ja nicht nur um Kultur, sondern auch um | |
politische Veränderungen. Haben Sie auch in andere Regionen geschaut? | |
Savage: Nicht wirklich. Ich spreche keine Fremdsprache gut genug. Zumal die | |
USA und Großbritannien ausreichend Material hergaben, um über 700 Seiten zu | |
füllen. Wenn andere Leute die Geschichte fortschreiben, um eine | |
französische oder deutsche Perspektive, fände ich das toll. Als „England’s | |
Dreaming“ 1991 erschien, hieß es oft, es sei das ultimative Buch über Punk. | |
Es ist einfach nur ein Buch, das viel Platz für andere Werke über Punk | |
lässt. Man muss da nicht konkurrieren. Im besten Fall sind meine Bücher | |
Teil eines Dialogs. | |
3 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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