Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- DJ Koze produziert neues Album: Furchtlos in die nächste Umlaufbahn
> Das fabelhafte, von DJ Koze produzierte Dancefloor-Album „Hit Parade“,
> inszeniert den irischen Popstar Roísín Murphy als zauderndes KI-Monster.
Bild: Architektin der Seele: Der irische Popstar Roísín Murphy
Das Leben verläuft in Kreisen. Manchmal geht es zurück zu den Ursprüngen,
um dann auf einer anderen Umlaufbahn von Neuem durchzustarten. Bei Róisín
Murphy sieht das so aus: Die irische Sängerin hat für das Video zur Single
„Fader“ ihres neuen Albums „Hit Parade“ ihre Geburtsstadt besucht:
Arklow liegt etwa eine Autostunde von Dublin entfernt. In der Kleinstadt
hat sie mit 150 Einwohner*innen bei „Hollywoodsonnenschein“ in
Schwarz-Weiß ein vor Lebensfreude prall gefülltes Video gedreht:
Blaskapellen, Linedancer, Freund*innen und Familie paradieren durch die
Straßen, Murphy mittenmang, wie bei einer Second-Line-Parade oder in den
frühen HipHop-Videos.
Im Songtext werden Leben, Tod und Musik verhandelt, weshalb es für sie gar
keine andere Wahl gab, als an den Ort zurückzukehren, wo alles begann: die
Liebe zur Musik und das Entdecken ihrer eigenen Stimme. Die Mutter besaß
eine große Plattensammlung, der Vater spielte in Bands, zu deren Auftritten
die ganze Familie mitreiste, sagte sie in einem Interview. Im Repertoire
waren vor allem Jazzsongs und Klassiker des American Songbook.
## Musikalisch offen und verspielt
Musikalische Offenheit und die Lust, mit unterschiedlichen Genres zu
spielen, kennzeichnen auch „Hit Parade“. Produziert ist die Musik von
Hamburgs erstem Soundingenieur DJ Koze, der Soul, Pop, HipHop, Breakbeats
und what-have-you zu einem organischen Ganzen verschmolzen hat, bei dem
Details immer hörbar bleiben.
„Fader“ schlägt mit interagierenden, chorischen Haupt- und
Backgroundgesangslinien eine Brücke zu vertrauten Murphy-Kompositionen wie
etwa den Alben „Hairless Toys“ (2015) und [1][„Take Her Up to Monto“ von
2016]. Zu Murphys seelenvollem Gesang, der hier und da ins Folkige ausbüxt,
und zu getragenen Soulrevue-Bläsersätzen gesellen sich HipHop-Vibes und ein
verlässlich voranschreitender Bass. Ein morsender Echolotsound setzt
Akzente. Aufmerksamkeit erzeugen abseitige Sounds, mit denen Koze alle
Songs des Albums signiert hat.
[2][2018 hatte Murphy bei zwei Tracks seines Albums „Knock Knock]“
mitgewirkt, danach stand für sie fest: Ein von Koze produziertes Album muss
her. „Hit Parade“ entstand im virtuellen Raum. Über sechs Jahre haben die
beiden Musikskizzen zwischen London und Hamburg ausgetauscht.
## Den Songs Geheimnisse verraten
Diese lange Arbeit im Homeoffice brachte Murphy dazu, sehr persönlich zu
werden, sie hat den Songs ihre Geheimnisse verraten, sagt sie. Auch Koze
hat die künstlerische Freiheit genutzt, um seine Produktionsskills zu
verfeinern. Die Genese einiger Songs dauerte so lange, dass Murphy
[3][zwischendurch Raum fand, das „Lockdownalbum“ „Róisín Machine“ (20…
einzuspielen, das [4][vom Sheffielder Housepionier Richard Barrat (alias
Crooked Man)] produziert und 2021 zum Remixalbum [5][„Crooked Machine“]
weitergedreht wurde.
Murphy und Koze begannen ihre Karrieren beide in den 1990ern: sie als
Hälfte des Sheffielder Electrodanceduos Moloko, er als Viertel der
Hamburger HipHop-Crew Fischmob. Murphy veröffentlicht seit 2005 immer
wieder überraschende – expect the unexpected! – Soloalben, verblüfft durch
Artwork und Clips. Das Attribut Gesamtkunstwerk hat sie sich hart
erarbeitet, auch mithilfe geschickter Nutzung aller Social-Media-Kanäle.
Vor Kurzem allerdings setzte sie sich in die Nesseln: Auf Facebook nannte
sie die Verabreichung von Pubertätsblockern an Transgenderkids trostlos und
einzig für Pharmaunternehmen einträglich. Durcheinander geratene Kinder
seien verletzlich und gehörten beschützt. Dieses Statement löste in Teilen
ihrer LGBTQ-Fangemeinde einen Shitstorm aus, woraufhin Murphy sich
entschuldigte. Es sei liebevoller Sorge geschuldet gewesen. Sie werde sich
zukünftig nur noch zur Musik äußern.
## Optische Grenzerfahrungen
In einem Video – darin beantwortet Murphy Fanfragen – erklärt die irische
Künstlerin, wie sehr sie Architektur fasziniere. Architektur sei ihre
Schule des Sehens gewesen. Das ist ihren [6][jeglichen Naturgesetzen
trotzenden Bühnenoutfits auch anzusehen, die ihre Konzerte zur optischen
Grenzerfahrun]g machen.
Koze ließ seinem abseitigen Humor zunächst als DJ von Fischmob, später bei
International Pony freien Lauf. Dann reüssierte er als Produzent und
Labelbetreiber. Ein Vorgeschmack auf „Hit Parade“ war Kozes 12'‘-Edit von
„Can’t Replicate“, die im Frühjahr auf den Tanzflächen Powerplaystatus
erlangte. Auch die Albumversion hat Sogwirkung: Ein treibender Beat muckt
auf gegen Streichersounds, ab und an unterbricht ein Wisch über die Hi-Hat
die enervierende Stimmung, darüber Murphys fast verletzlicher Gesang, wie
so oft über jemanden, der ihre Liebe nicht zu schätzenweiß.
Anders als das Videosetting von „Fader“ mutet das Cover-Artwork surreal an.
Die KI-generierten Bilder der Künstlerin Beth Frey beeindruckten Murphy,
aber sich der KI auszuliefern hätte Kontrollverlust bedeutet, weshalb Frey
ihre Bilder mit Fotos von Murphy verschmolz. Nun grient ein Botoxmonster
vom Cover.
## Ungebrochen stolz
Auch das Video für „You Knew“ zeigt eine gemorphte KI-Murphy, der Text
schiebt sich kaugummiartig ins Bild: „What you expect me to toe the line
for?“ Hier ist eine Frau bereit, sich in fremde Form pressen zu lassen,
aber genervt, dass ihre Initiative einseitig ist: „Your mere reactions / I
take actions“. Die 50-Jährige sagt, der Song spiegele ihr Leben, sie habe
oft geliebt, das sei unerwidert geblieben, ihr Stolz sei trotzdem
ungebrochen.
Dezent verzerrte Pianoakkorde gesellen sich zu einem Herzschlagbeat,
metallische Sounds, außerirdische Stimmen kommentieren Murphys kühl und im
Zeitraffer vorgetragenen Text. Das klagende „You Knew“ und Hydrauliksounds
markieren den Fluchtweg aus einem klaustrophobischen Szenario.
Zwei auf dem Album nicht enthaltene Edits kitzeln die
Dancefloortauglichkeit des Songs heraus: der vom New Yorker House- und
Discoteer Eli Escobar mit Einsatz von Harold-Faltermeyer-Markenzeichen und
Fokus auf die Hooklines, der vom Londoner DJ- und Produzentenduo Payfone
mit knisternden Hi-Hats, Blubberbeats und Unterwassersounds. Der Lovesong
„Cocool“ ist eine House-Yacht-Nummer mit Ohrfeigendrums und gniedelnden
Gitarren, dazu singt Murphy mit Musicalaspiration von „playful sillyness“
und fordert: „Embrace your inner child!“
## Scheitern als Chance
Murphy lotet mit dem Song aus, ob es möglich ist, sich zu verlieben und
dennoch Humor zu wahren. Der Sixties-Sunshine-Pop von „The Universe“
bedient musikalisch ebenfalls unbeschwerte Gefühle. Eine fröhlich
schwingende Gitarre bereitet den Boden für die Überredungskünste der
Gesangsstimme: „It’s inevitable, if you are afraid to fail / We may never
set sail.“ Alles wird gut, solange wir zusammen sind. Dann fängt Murphy an
zu meckern: „This is not happening to me right now“, wieder Kontrast:
Autotune-Murphy plappert alles nach, lichte Streicher, Bläser und
Orgeleinsprengsel melden Land in Sicht!
Für „The House“ griff Koze tief in die Verfremdungseffektekiste. Der extrem
dicht produzierte Song beginnt mit einem absurden Interviewsnippet,
flankiert von Funkgitarrenlicks, rollt mit Autotunestimme, Rasseln und aus
allen Echokammern wabernden Sounds im Viervierteltakt vor und zurück. Dabei
ist er klassischer Murphy: glasklarer Pop mit mehrstimmigem Gesang,
Chorstimmen, die sich die Hooklines vor die Füße werfen.
Ähnlich bei „Hurtz So Bad“. Murphy singt „Did I ever disappoint you?“,…
in unterschiedlichen Stimmmodulationen nach, mal nachsichtig, mal unsicher,
meist aggressiv. Es knattert und fiept über Triphopsounds und Breakbeats,
Murphy singt im Chor „Uh, and it hurts so bad“: Wieder einer, der mit ihr
spielt wie mit seiner Gitarre. Musik und Text sind eng verwoben,
kommentieren und ergänzen einander en détail.
## Störend und fragil
Beim Albumauftakt „What Not To Do“ ist das ähnlich: Ein Dronesound geht in
einen Sphärenklang über, Murphy verkündet: „Come on, I’m ready now“, e…
enervierender Störton setzt ein, wird den Song über auf die Fragilität der
Protagonistin verweisen.
Die Instrumentierung offenbart, was der Gesang zu verbergen sucht: flehen,
Unsicherheit. „Tell me what not to do / Teach me what not to do / Show me,
teach me, how to be / Turn me into anything you need“. Der Gesang
konterkariert die Unterwürfigkeit mit Stärke. Ein Fakt, den Moodyman in
seinem Remix herausstreicht. „I don’t believe I had the pleasure to get to
know you right“. Es shuffelt ein Bass; Latin-Kuhglocken-Beat und
Wabergitarren erzeugen Spannung, getriggert durch die Gesangsparts des
Detroiter Houseproduzenten.
Im Finale „Eureka“ klingt an, dass eine neuerliche Stippvisite in Arklow
vonnöten sein wird. „What the doctor said / He took one look at me / Told
me that he could see / There was something there“. Das per Songtitel
vermittelte Frohlocken, etwas gefunden zu haben, bleibt glatt im Halse
stecken. Die Produktion lässt Ungemach ahnen: Zu Feensounds mischt sich
eine Spieluhr, Basswellen werden von kantigen Sounds gestoppt, ein
Four-to-the-floor-Beat setzt dem Song ein Ende. Und macht neugierig darauf,
auf welcher Umlaufbahn Róisín Murphy weiterkreisen wird.
7 Sep 2023
## LINKS
[1] /Neues-Album-von-Roisin-Murphy/!5325608
[2] /Neues-Album-von-DJ-Koze/!5501045
[3] /Neues-Album-Roisin-Machine/!5715526
[4] /Soloalbumdebuet-von-Crooked-Man/!5340280
[5] /Dub-von-Roisin-Murphy-und-Crooked-Man/!5780654
[6] /Roisin-Murphy-ueber-Ersatzfamilien/!5009011
## AUTOREN
Sylvia Prahl
## TAGS
Roísín Murphy
Neues Album
Schwerpunkt Künstliche Intelligenz
koze
wochentaz
Schwerpunkt Brexit
Popstar
Musik
Disco
Neues Album
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Music Can Hear Us“ von DJ Koze: Mit der Gondel ins Klanggebirge
Die Welt ist schlecht. DJ Koze und Gäste wie Markus Acher und Anja Plaschg
machen sein Album „Music Can Hear Us“ dennoch zum Gesamtkunstwerk.
Autor Jon Savage über Pop und LGBTQ: „Das Androgyne sprach mich sehr an“
Der britische Autor Jon Savage beschreibt in „The Secret Public: How LGBTQ
Resistance Shaped Popular Culture“ die Geschichte der Queerness im Pop.
Yacht-Country-Album von Richard Hawley: Wie viel Uhr ist es, Liebes?
Don’t Believe the Lies! Hört lieber den Briten Richard Hawley und seine
Album-Ode an die Menschen von Sheffield: „In This City They Call You Love“.
Popstar Roísín Murphy im Gespräch: „Man muss Risiken eingehen“
Auf Anweisung von Managern Songs verändern? Würde Roísín Murphy nie tun.
Ein Gespräch mit dem Popstar über das, was sie als Künstlerin braucht.
Neues Album „WIRE“ von Portrait XO: Im Duett mit der KI
Fremd und befremdlich vertraut: Als Portrait XO veröffentlicht
US-Produzentin Rania Kim mit einer Stimm-KI das verblüffende Albumprojekt
„WIRE“.
Dub von Roísín Murphy und Crooked Man: Gleich noch mal, aber ganz anders
Roísín Murphy veröffentlicht mit dem House-Pionier Richard Barratt „Crooked
Machine“, einen Discodubmix als eigenständiges Werk.
Neues Album von DJ Koze: Ein sorgenfreies Paralleluniversum
Deejaying als Kunstform: Das neue Album „knock knock“ übersetzt den Sound
der Tanzfläche in ein schillerndes psychedelisches Kaleidoskop.
Soloalbumdebüt von Crooked Man: Null Bock auf Taubenkot
Licht im Schatten: Crooked Man aus Sheffield veröffentlicht sein Debütalbum
– stilbewusster elektronischer Pop zum Tanzen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.