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# taz.de -- Yacht-Country-Album von Richard Hawley: Wie viel Uhr ist es, Liebes?
> Don’t Believe the Lies! Hört lieber den Briten Richard Hawley und seine
> Album-Ode an die Menschen von Sheffield: „In This City They Call You
> Love“.
Bild: Gitarre, Stimme, Sheffield: Richard Hawley
Sheffield ist – wie Rom – auf sieben Hügeln erbaut. „Aber natürlich um
einiges schöner“, sagt Richard Hawley. Er lacht kauzig, wohl wissend, dass
Liebe auf mindestens einem Auge blind macht. Den britischen Künstler
fasziniert an der Stadt, dass Schönheit und harsche Hässlichkeit so nah
beieinanderliegen.
Er mag die Freundlichkeit und den Humor der Leute. Der Singer-Songwriter
fasst das mit einem Zitat von John Ruskin, dem viktorianischen
Kunstkritiker, zusammen: „Sheffield ist ein dreckiges Bild in einem
goldenen Rahmen.“
Dass Hawley mit seiner Heimatstadt im nordenglischen Yorkshire ein
besonderes Ding am Laufen hat, verdeutlichen nicht nur die meisten Titel
und Coverfotos seiner bisher neun Soloalben: „Lowedges“ (2003) ist ein
Vorort im Süden der grünsten Stadt Europas, „Lady’s Bridge“ (2007) eine
Brücke in der komplett verhunzten Innenstadt und „Coles Corner“ (2005) ein
beliebter Treffpunkt für Verliebte jeden Alters.
## Spezialsoße Henderson's Relish
Hawleys Solokarriere startete in den späten 1990ern, [1][als seine Freunde
Steve Mackey und Jarvis Cocker von Pulp], bei denen er als Livegitarrist
tätig war, ihn dazu ermutigten. Im Jahr 2000 gab er ein sagenhaftes Konzert
in der Fabrik der Sheffielder Würzsoße „Henderson’s Relish“. Die Firma
bringt seither zu jedem Hawley-Album eine Special-Hawley-Soßen-Edition auf
den Markt.
Er ist weit mehr als ein Lokalheld, [2][obwohl Richard Hawley auch mit
seinem neuen Album bereits im Titel eine besondere Eigenschaft Sheffields
und seiner Bewohner*innen hervorhebt]: „In This City They Call You
Love“. Ob komplett tätowierter Busfahrer oder blumenzupfende Lady im
Vorgarten: „Wir beenden unsere Sätze mit dem Wort ‚love‘. Es strukturiert
alle Gespräche und hängt an Fragen: ‚Wie viel Uhr ist es, love?‘, ‚Gehs…
in den Pub, love?‘
Je nach Tonfall muss es allerdings nicht nett gemeint sein … Grundsätzlich
ist es angeborene Freundlichkeit, die die Menschen aus Sheffield
auszeichnet. Ich bin weit rumgekommen, aber diese Freundlichkeit gibt es
sonst nirgends“, sagt Hawley der taz.
## Eigenes Aufnahmestudio „Disgraceland“
Der Albumtitel ist eine Zeile aus dem Song „People“. Hawley hat den Song
mit nur einem Take in seinem Tonstudioschuppen „Disgraceland'“ im Garten
seines Hauses im beschaulichen Westen der Stadt aufgenommen. Zärtlich
hallende Stimme, verhaltene Gitarre, triggernder Beat, beschwörende
Melodie: fertig ist die Ode.
Grundsätzlich war es Hawleys Idee, auf „In This City They Call You Love“
Instrumentierung und Produktion so licht wie möglich zu gestalten, „roh und
rudimentär. Ich habe den Gesang und die Stimmen in den Vordergrund
gestellt, keine gniedelnden Gitarrensoli“, sagt er. Ausgerechnet „People“
wollte er als „Big-Bam-Song“ inszenieren. Doch sein Schlagzeuger befand:
„Lass mal. Der Song passt so.“ Danke, Dean Beresford!
Textzeilen wie „Folks work so hard/And stay all their lives“ oder „Steel
City folks fight for every breath“ werfen die Frage auf, ob er die
Stahlstadt Sheffield nicht ein wenig zu sehr romantisiert? Nein, erklärt
Hawley, [3][Margaret Thatchers Traum] sei es schließlich gewesen, dass die
Engländer nichts mehr herstellen, nur noch konsumieren.
## Weiterleben, auch nach dem Thatcherismus
Das ging nur in Erfüllung, indem sie alle Industrie zerschlug. „Ich komme
aus einer Familie, die immer etwas hergestellt hat. Meine Verwandtschaft
hat in der Stahlindustrie gearbeitet. Thatcher hat mit der Zerschlagung der
Gewerkschaften auch die Gemeinschaft der Stahlarbeiter zerstört. Deshalb
singe ich: Egal, was ihr mit uns anstellt, wir leben weiter!“
Warum er nicht Stahlarbeiter geworden ist? „Das war keine Option, als ich
mit 16 aus der Schule kam, war Thatcher vier Jahre im Amt, es gab nichts
mehr. Zum Glück hatte ich die Option Musik. Schon mein Vater spielte Musik,
meine Mutter sang. Ich habe in Pubs angefangen zu spielen, ging mit meinem
Vater in Deutschland auf Tour, habe in Hamburg auf der Reeperbahn in
Stripclubs gespielt. Da war ich 14“, sagt der 57-Jährige.
Im Song „Have Love“ bereitet eine klirrende Gitarre den Weg für einen fast
messianischen Gesang. Zum beschwörenden Rasselbeat verbreitet Hawley die
Formel „Have love. Give love. Get loved.“ So einfach, so wahr. Fast als
Indiz für die Allgemeingültigkeit, singt er den Refrain im Chor.
## Nur noch auf Bildschirme starren
Zusammen mit der Textzeile „Don’t Believe the lies“ könnte man meinen, es
sei sein Kommentar zu Fake News und Hate-Speech. „Das wäre denkbar. Ich
habe das aus der Vaterperspektive geschrieben, der seine Kinder nur noch
auf die Bildschirme starren sieht, anstatt am Leben teilzunehmen. Ich nehme
bei meinem jüngsten Sohn allerdings eine Verhaltensänderung wahr. Er wurde
während des Lockdowns 18, durfte nicht feiern, nix, nur Bildschirm. Ich
habe das Gefühl, er wendet sich gerade wieder ab vom Bildschirm, weil er
ihn nur als Ort der Dunkelheit kennt.“
Ein Helligkeit verströmender Song ist „Prism in Jeans“. Er handelt von
einer Frau, die schlicht das helle Licht ist. Mit luftiger Melodie,
zuversichtlichem Rhythmus, generösen Streichern und Gitarre verströmt er
das Flair eines Blue-Eyed-Soul-Popsongs. Petticoat nicht ausgeschlossen.
Irgendwie Yacht-Country. Im Video tanzen Studenten der Sheffielder Bailey
Cox Academy einen fröhlichen Reigen. In Jeans. Im Hintergrund ist der
Bahnhof Moore Street zu sehen – wie auf dem Coverfoto des Albums.
Seine Wurzeln im Country brechen sich auch anderswo Bahn: „Hear That
Whistle Blow“ gemahnt an den Hank-Williams-Song von 1951. „Heavy Rain“, in
dem abwesende Freunde beklagt werden, breitet mit Bottleneck-Gitarre
seinen wärmenden Mantel über einem aus. Plötzlich ist der Himmel
sternenklar. Der Blues von „Deep Waters“ klingt zeitlos nach Vergangenheit
und lässt sentimentale Vibes à la Bobby Goldsboro und Neil Diamond über das
Stoppelfeld wehen.
## Laut werden: nur wegen den Tories
„Deep Space“ hingegen ist ein ungemütlicher Song, beäugt die Kanten des
Lebens. Trotz der enervierten Instrumentierung bleibt Hawleys Stimme ruhig.
Was ihn dazu bringt, seine Stimme zu erheben? „Allgemein die Tories. Der
Brexit. Sie haben uns gefickt. Das ganze Land. Es ist so bitter. Ich sehe
mich nicht als kleinen Engländer. Ich bin Sheffielder. Ich denke
europäisch. Reisen haben mein Leben bereichert. Außerdem komme ich aus
Pitsmoor. Das war multikulturell, bevor das Wort überhaupt erfunden wurde.“
Das Rockistische von „Deep Space“ knüpft an Hawleys Album „Standing at t…
Sky’s Edge“ (2012) an, dessen Titel eine Metapher ist für den Abgrund, an
dem wir stehen. Es ist auch Titel für ein preisgekröntes Musical, das mit
Hawley-Songs die Geschichte mehrerer Familien erzählt, die in Sheffields
brutalistischem Sozialwohnsilo Park Hill leben. Wer weiß, wie viel die
„Standing at the Sky’s Edge“-Edition von Henderson’s Relish einmal wert
ist!
19 May 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Sylvia Prahl
## TAGS
Schwerpunkt Brexit
Neues Album
England
Roísín Murphy
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Einnehmend unaufdringlich, trotz Midlife-Crisis – diese Stimmung bekommt
Richard Hawley in seinem Album „Hollow Meadows“ hin.
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