# taz.de -- Neues Album „WIRE“ von Portrait XO: Im Duett mit der KI | |
> Fremd und befremdlich vertraut: Als Portrait XO veröffentlicht | |
> US-Produzentin Rania Kim mit einer Stimm-KI das verblüffende Albumprojekt | |
> „WIRE“. | |
Bild: Mit künstlicher Intelligenz bearbeitetes Selbstporträt der Künstlerin … | |
In einem fragmentarischen Popsong antwortet eine Stimme einer anderen. Sie | |
ähneln sich, sie gleichen einander, manchmal ist kaum auszumachen, welche | |
von beiden gerade singt. Eine der Stimmen gehört zu der in Berlin lebenden | |
Künstlerin Rania Kim, die andere zu einer KI, die sie imitiert. | |
Gemeinsam sind sie Portrait XO und haben zuletzt ihr Debütalbum „WIRE“ | |
veröffentlicht, ein audiovisuelles Projekt. In den zehn Tracks verschwinden | |
die souligen, gelegentlich fast kitschigen Gesangsmelodien immer wieder in | |
dissonantem Gemurmel, das mal nach schlechtem Empfang klingt, mal nach dem | |
Rauschen einer zurückspulenden Kassette. | |
Bewusst gesetzte Bassschläge und tiefe Drops strukturieren das | |
Durcheinander, warme Synthesizerlinien und klare Harmonien brechen das | |
elektronische Flackern. Erst die kurzen Momente, in denen sich Gesang aus | |
dem Murmeln herausschält, erzeugen ein Gefühl von Halt. | |
Das Wechselspiel von Entgleiten und Erkennen ist in der Musik von „WIRE“ | |
auch sichtbar: In einer schimmernd-fließenden Verwandlung zwischen Goldgelb | |
und Hellblau, spiegelglänzend wie Wasser, enthüllen sich immer neue Formen, | |
wie in einem Hologramm. Manche scheinen vertraut. Aber ehe sich ein | |
vermeintliches Tier der genaueren Betrachtung stellt, ist es wieder zu | |
etwas anderem verschmolzen. | |
## Gleichberechtigte Zusammenarbeit | |
„WIRE“, entstanden in „gleichberechtigter Zusammenarbeit“ zwischen | |
[1][Mensch und KI], erschien am 9. Dezember 2022 als transdisziplinäres | |
Gesamtkunstwerk auf Kims Label Sound Obsessed in Kooperation mit der | |
Berliner NFT-Plattform „twelve x twelve“. Wobei sein | |
Veröffentlichungszyklus erst damit begann: „WIRE“ wurde im Format „NFT to | |
Vinyl“ veröffentlicht. | |
Seit einem Jahr wurden limitierte digitale [2][Editionen von NFTs] | |
verkauft: Virtuelle Wundertüten, in denen neben der Musik audiovisuelle | |
Versionen von Songs, Texten und Artwork stecken. Einige sind Utility-NFTs, | |
mit denen gleichzeitig das Album auf Vinyl erworben wird, dessen Produktion | |
erst nach Beginn der NFT-Verkäufe anfing. Die Veröffentlichung ist fertig, | |
wenn die Platten ankommen und den virtuellen Sammelbesitz der NFTs physisch | |
manifestieren. Vor Kurzem sind sie bei den KäuferInnen eingetroffen. | |
Wie viele [3][andere Künstler:innen] hat Kim in der Langeweile des | |
pandemischen Lockdowns von der Existenz von NFTs (Non Fungible Tokens) | |
erfahren und war bald fasziniert. Von Vinyl träumte sie schon lange. „Ich | |
wollte das Album besonders präsentieren. Und dass alle, die diesen Prozess | |
durchlaufen und in meine Arbeit investieren, etwas Einzigartiges | |
zurückbekommen“, erklärt sie. Alles, was Rania Kim tut, scheint von | |
stetiger Neugierde und der Suche nach Erweiterung getrieben. | |
Sie wuchs in Los Angeles auf in einem Elternhaus, das ausschließlich | |
klassische Musik gelten ließ. Kim durchlebte eine strenge Kindheit mit | |
professioneller Klavierausbildung. Mit 15 beschloss sie, ihren eigenen Weg | |
zu gehen. 2006 zog sie nach London und fand auf Musik-Hackathons, inmitten | |
von Enthusiast:Innen, die sich Instrumente zusammenlöten oder versuchen, | |
zweckentfremdeten Geräten Töne zu entlocken („Circuit Bending“), ihre | |
Nische der elektronischen Musikproduktion. | |
## KI funktioniert wie Wellenformvorhersage | |
Die scheinbar endlosen Möglichkeiten der Klangerzeugung begeisterten Kim: | |
„Es wurde eine Art Sucht.“ 2015 veröffentlichte sie ihre Debüt-EP unter d… | |
Namen Portrait XO und geriet dann in eine künstlerische Krise. Sie | |
produzierte über 200 Songs, veröffentlichte aber keinen davon. | |
Schließlich lernte sie den Musiker und Informatiker CJ Carr kennen – auch | |
bekannt als eine Hälfte des generativen Künstlerduos Dadabots – und mit ihm | |
KI als künstlerisches Medium. „Als er mir davon erzählte, blieb die Idee, | |
Musik mit künstlicher Intelligenz zu generieren, zunächst völlig abstrakt“, | |
sagt Kim und erinnert sich daran, dass ihr die Vorstellung Angst machte. | |
Der Ansatz war damals noch so neu, dass es kaum brauchbare Hörbeispiele | |
gab. | |
Dann programmierte Carr ein Custom-Sample-RNN-KI-Modell und Kim übergab ihm | |
dafür eine einstündige Aufnahme ihrer Stimme als Trainingsdaten. Die KI | |
studierte diese Aufnahme während zweieinhalb Tagen und spuckte dann zehn | |
Stunden generierten Gesang aus. Vieles klang fremd und manches befremdlich | |
vertraut. „Im Grunde funktioniert die KI einfach als Wellenformvorhersage“, | |
erklärt Kim. „Sie analysiert die Wellenformen im vorgegebenen Datenmaterial | |
und versucht dann neue Muster zu produzieren, die den Erkannten stark | |
ähneln.“ | |
Da die KI aber weder Klangartefakte wie Hintergrundrauschen von Gesang | |
trennt noch zwischen verschiedenen Vokaltechniken unterscheiden kann und | |
schlicht alle gefundenen Wellenmuster imitiert, verhielt sie sich bisweilen | |
merkwürdig. „Da war viel Zeug, das einfach nur glitchy war“, sagt Kim und | |
lacht: „Ich könnte nicht mal versuchen, so zu singen.“ | |
## Intimität zwischen Mensch und Technologie | |
Und weil die KI keinerlei Musiktheorie kennt, auf der unsere ästhetischen | |
Gewohnheiten fußen, hält sie sich auch nicht daran. „Oft entstehen seltsame | |
Melodien, die teils mikrotonal sind. Manchmal klingt es einfach nicht | |
richtig, zumindest nicht im Sinne westlicher Musik“, erklärt Kim. Die | |
Imitation ihrer Stimme ergab also keine Kopie. | |
Der autonome Output der KI wurde zur Basis des musikalischen Materials, das | |
Kim um einen intensiven menschlichen Kompositionsprozess ergänzte. „Mit KI | |
zu arbeiten bringt definitiv eine neue Ebene der Intimität zwischen Mensch | |
und Technologie mit sich“, sagt Kim. Ihr ist es sehr wichtig, unsere | |
(abhängige) Beziehung zu Maschinen fortlaufend zu reflektieren. „Es hat mir | |
geholfen, aus Gewohnheiten auszubrechen, etwas zu tun, mit dem ich mich | |
erst unwohl fühlte.“ | |
Die Arbeit mit KI zeigte ihr neue Produktionswege auf. „Es kam zu magischen | |
Momenten, in denen zwischen all dem seltsam wahllosen Material die KI dann | |
plötzlich kleine Fragmente von Melodien ausspuckte, die ich selbst vorher | |
noch nie gesungen habe“, erzählt Kim. So entdeckte sie ihre wichtigste | |
Kompositionsmethode, die sie „neurales Vokalduett“ nennt: Im generativen | |
Datenwust lauerte sie kleinen, kenntlichen Melodien und Worten auf, | |
abstrahierte sie und spann sie weiter. | |
„Manchmal singt die KI etwas, das wie ein Wort klingt, und schweift dann | |
wieder ins Geräusch ab. Das lässt dem menschlichen Verstand Raum, die | |
Lücken auszufüllen.“ Alle Stücke kamen so zu ihrem Namen, auch das Album | |
selbst: Die KI sang „Sitting on a“ und brach ab. Kim ergänzte den Satz: | |
„Sitting on A WIRE“. | |
Neben ihrer mehrfach preisgekrönten künstlerischen Arbeit hat Kim auch | |
die Community und das Label Sound Obsessed gegründet. Hier teilen | |
[4][Musiker:innen, Klangkünstler:innen, Roboter-Ingenieur:innen und | |
Data-Scientists Tools und diskutieren individuelle, gesellschaftliche, | |
ökologische und wirtschaftliche Auswirkungen der technischen Entwicklung]. | |
Und sie stellen Fragen, um mitzugestalten: Wie können im Web 3.0 mit | |
Blockchain und NFTs gerechtere und unabhängigere neue ökonomische | |
Strukturen für Künstler:innen entstehen? Wie können Bilder und Klänge | |
für KIs unlesbar gemacht werden, damit ein bestimmter Stil nicht durch den | |
Algorithmus angeeignet wird? Und ganz grundlegend: Wie kann geistiges | |
Eigentum an generativen Arbeiten gesichert werden? | |
Denn ebenso wenig, wie online frei verfügbare Inhalte davor sicher sind, | |
von KI imitiert zu werden, schützt das Urheberrecht KI-basierte Kunst | |
bislang zuverlässig. Nur wenn eine KI von der eigenen Stimme gelernt hat. | |
Erst wenn eindeutig menschliche Gestaltungselemente und kreative | |
Entscheidungen zu dem hinzukommen, was eine KI generiert, kann auch das | |
Urheberrecht greifen. Die bloße Auswahl eines Menschen aus dem maschinellem | |
Output allein genügt bislang nicht. | |
Die Bedingungen geistigen Eigentums von KI-Kunst werden momentan juristisch | |
verhandelt. Anfang 2023 klagten etwa in Kalifornien Künstler:innen gegen | |
die KI-Bildgeneratoren Midijourney und Stable Diffusion, weil sie durch | |
deren Output ihr Urheberrecht verletzt sahen. 2022 lehnte das United States | |
Copyright Office einen Antrag auf urheberrechtlichen Schutz eines | |
KI-generierten Bildes ab. Die Entwicklung in der generativen Kunstszene | |
geht währenddessen rasant voran. | |
„Ob es den Leuten gefällt oder nicht, KI hat Auswirkungen auf jeden | |
einzelnen Bereich des Alltags“, sagt Kim und unterstreicht, wie wichtig es | |
deshalb ist, sich über KI zu bilden, selbst wenn man sie nicht nutzen | |
möchte. Nicht zuletzt, weil der Einsatz von KI auch unkalkulierbare | |
Gefahren bergen kann. „Es ist wichtig, ein Bewusstsein für negative | |
Auswirkungen zu haben, das sollte uns nicht davon abhalten, zu versuchen, | |
damit inspirierende Dinge zu tun.“ | |
Auf die Frage nach der verbreiteten Angst, dass menschliches Handeln durch | |
effizientere KI ersetzt werden könnte, lächelt Kim nur: „Ich glaube nicht, | |
dass irgendetwas die Einzigartigkeit und Kreativität von Menschen ersetzen | |
wird. Wir müssen uns daran erinnern, dass KIs Algorithmen oder Datensets | |
nutzen, die von Menschen gemacht werden. | |
Und diese Datensets bestimmen, woraus der Output generiert wird.“ Keine KI | |
könne den ganzheitlichen Prozess nachbilden, den ein Mensch durchlebt, der | |
ein Musikinstrument lernt. „Wir sind körperliche Wesen, die taktile | |
Erfahrungen brauchen. Ich glaube daher nicht, dass Technologie besonders | |
essenzielle Aspekte dessen ersetzen wird, was Menschen menschlich macht.“ | |
28 Dec 2023 | |
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Tabea Köbler | |
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