| # taz.de -- Roman „Maniac“ von Benjamín Labatut: Als die Maschine denken l… | |
| > Der Schriftsteller Benjamín Labatut erzählt von Hochbegabten, die sich | |
| > daranmachen, künstliches digitales Leben zu erschaffen: „Maniac“. | |
| Bild: John von Neumann 1954 neben einem historischen EDVAC-Rechner in Princeton… | |
| Die Geniedichte ist ausgesprochen hoch. Es wimmelt in diesem Roman von | |
| Hochbegabten in Diensten des militärisch-industriellen Komplexes: Mit | |
| Eugene Paul Wigner, Sydney Brenner und Richard Feynman kommen allein drei | |
| Nobelpreisträger zu Wort, ebenso wie der Spieltheoretiker Oskar Morgenstern | |
| oder der Computer-Pionier Julian Bigelow. | |
| Man wird ein wenig wehmütig beim Lesen, dass man selbst wohl niemals wird | |
| einwandfrei nachvollziehen können, was sie in ihren Disziplinen erstmals zu | |
| denken gaben. Dabei sind sie selbst allesamt einem von ihnen unterlegen, | |
| dem Mann, dessen Geschichte sie aus ihren wechselnden Perspektiven | |
| erzählen: John von Neumann. | |
| In seiner kurzen Lebenszeit von 1903 bis 1957 bereitet er der Informatik | |
| den Weg, prägt die Militärstrategie des Kalten Krieges entscheidend, | |
| arbeitet als Berater am Manhattan-Projekt ebenso mit wie an zahlreichen | |
| anderen Rüstungsvorhaben. Als er im Sterben liegt, so schildert es der | |
| chilenische Autor Benjamín Labatut, sitzt die gesamte militärische Elite | |
| der USA an seinem Bett und wartet auf eine letzte Idee dieser Geistesgröße, | |
| die seiner Zeit wie vielleicht kein anderer den Stempel aufgedrückt hat. | |
| Und nicht nur seiner Zeit, sondern auch der Zukunft oder besser: unserer | |
| Gegenwart. Zum Ende seines Lebens stiehlt von Neumann die | |
| Forschungsergebnisse eines Institutsmitarbeiters namens Nils Aall | |
| Barricelli (auch ihn gab es tatsächlich), der von Neumanns titelgebenden | |
| Supercomputer „Maniac“ mit Zahlen füttert in der Hoffnung, dass diese, | |
| ähnlich wie der Mensch, eine evolutionäre Entwicklung durchschreiten. | |
| ## Gründer der KI-Forschung | |
| Barricellis Ziel besteht darin, künstliches digitales Leben zu erschaffen, | |
| und einiges spricht dafür, dass dies zwar nicht ihm, aber von Neumann | |
| tatsächlich glückt. Mindestens aber begründet dieser noch kurz vor seinem | |
| Tod, ausgehend von den gestohlenen Erkenntnissen, die KI-Forschung. | |
| Hier endet der zweite und längste des in drei Teile strukturierten Buchs. | |
| Im ersten werden zunächst am Beispiel einer gescheiterten Biografie die | |
| Kräfte vorgestellt, die das 20. Jahrhundert vorantreiben: die mathematische | |
| Naturwissenschaft und der politische Fanatismus. | |
| Labatut schildert den Niedergang des Physikers Paul Ehrenfest, der 1933 | |
| zunächst seinen mit dem Down-Syndrom geborenen Sohn und dann sich selbst | |
| erschießt. Nicht nur die politischen Umstände bewegten den aus einer | |
| jüdischen Familie stammenden Österreicher zu diesem Schritt. Seine | |
| Verzweiflung ist auch eine intellektuelle. | |
| Ehrenfest, ein begnadeter Didaktiker, ist Vertretern der neuen | |
| Quantenmechanik zwar zugeneigt, aber er fürchtet ihre Theorie auch, lässt | |
| sie sich doch nicht widerspruchsfrei verstehen und daher auch nicht | |
| vermitteln. Mehr noch, „wurde er das Gefühl nicht los, dass man eine Linie | |
| überschritten hatte, dass ein Dämon in der Seele der Physik herangewachsen | |
| war, ein Geist, den weder seine noch irgendeine nachfolgende Generation | |
| wieder zurück in die Flasche bekäme“. | |
| ## Künstliche Intelligenz | |
| Eine solche Dynamik wirkt im dritten Teil nach, in dem sich die Folgen der | |
| Forschung John von Neumanns darin zeigen, was wir heute künstliche | |
| Intelligenz nennen, was wir bewundern, aber auch zu fürchten lernen. | |
| Lababut erzählt die Geschichte des Go-Großmeisters Lee Sedol, der 2016 ein | |
| Turnier gegen ein Computerprogramm verliert. Sein wenige Jahre darauf | |
| folgendes Karriereende begründet er mit der Niederlage gegen die Software. | |
| Es sei nun sinnlos weiterzuspielen, „immer wäre da eine Intelligenz, die | |
| nicht zu besiegen ist“. | |
| Lee Sedol empfindet offenbar das, was der Philosoph Günther Anders | |
| „prometheische Scham“ nannte, den Schmerz über die eigene Unterlegenheit im | |
| Vergleich zur Perfektion der Maschine. Im Unterschied jedoch zu Anders | |
| bemüht Benjamín Labatut keine mythologische Metaphorik zur Verdeutlichung | |
| dieses Gefühls. Das 20. Jahrhundert ist bei ihm die Schwelle, an der der | |
| Homo sapiens auf keine Geschenke von Göttern oder Titanen mehr angewiesen | |
| ist, sondern im Gegenteil selbst Göttliches in die Welt setzt. | |
| Sein Buch kommt insofern gerade rechtzeitig, da sich die Weltbevölkerung | |
| mit den Fähigkeiten von ChatGPT bekannt macht. Lababut versucht sich an | |
| einer Erklärung, wie es dazu kam, dass Programme Abermillionen Jobs infrage | |
| stellen, dass sie nicht nur besser rechnen, sondern auch denken lernten, | |
| dass sie, glaubt man den Apokalyptikern, die ganze Menschheit eines Tages | |
| für verzichtbar halten könnten. | |
| In einer Hinsicht jedoch sorgt Labatut für Entwarnung: Einen so | |
| intelligenten Roman wie seinen hätte die Maschine nicht hingekriegt. | |
| 24 Jan 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Wolf | |
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