Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Historischer Roman von Ulla Lenze: Folgekosten der Moderne
> Ein Sanatorium ist zentraler Ort von „Das Wohlbefinden“. Drumherum hat
> Autorin Ulla Lenze ein Gesellschaftspanorama mit langem Zeitstrahl
> entwickelt.
Bild: Ein historische Postkartenansicht des Sanatoriums „Beelitzer Heilstätt…
Berlin taz | Drei Erzählstränge verknüpft Ulla Lenze in ihrem Roman „Das
Wohlbefinden“: Im Jahr 2022 fliegt Vanessa aus ihrer Wohnung in
Berlin-Wedding – und gerät auf der Wohnungssuche bis ins Brandenburgische
Beelitz und dort über ihren Makler auf die Lebensspur ihrer toten
Großmutter, der Schriftstellerin Johanna Schellmann.
Die ist im zweiten Strang 1967 schon eine alte Dame, hadert mit einer
Besprechung von Dr. Angelika Röttel in der FAZ, deren „grausamste Sätze“
lauten: „1. Johanna Schellmann war zwar eine erfolgreiche Frau, aber
dadurch noch lange keine Feministin. 2. Das Herz auf der Zunge hatte
Schellmann durchaus, aber das macht noch keine große Literatur.“ Grund
genug, im Westberlin der Studentenunruhen sich und der Welt noch einmal das
Gegenteil zu beweisen.
Die Entfesselung von Johannas literarischer Kreativität geht zurück auf das
Jahr 1908. In diesem dritten und umfangreichsten Strang empfiehlt Clemens,
Johannas ehrgeiziger und fortschrittsgläubiger Gatte, ihr die Heilstätten
in Beelitz als Inspirationsquelle. Bei einem Besuch dort begegnet Johanna
der charismatischen Patientin Anna Brenner.
## Hellseherische Fähigkeiten
Das Dienstmädchen verfügt angeblich über hellseherische Fähigkeiten, wird
vom behandelnden Arzt auch als „Medium“ benutzt und nach München zum
berühmten Okkultisten Albert von Schrenck-Notzing vermittelt. Auch Johanna
ist fasziniert von Anna, nimmt sie als Gast bei sich auf, riskiert darüber
fast ihre Ehe und schreibt mit Annas Hilfe ihr rückblickend bestes und
erfolgreichstes Buch über ihr eigenes Frauenleben.
Schon in ihrem letzten [1][Roman „Der Empfänger“] (2020) hat sich Ulla
Lenze das Genre des historischen Romans über einen Antihelden und
verschiedene Zeitebenen erschlossen. Damals war es der in die USA
ausgewanderte deutsche Amateurfunker Josef Klein, der sich im New York der
1930er von den Nazis als Spion einspannen lässt und später in Argentinien
und Costa Rica seine Mitläuferschaft reflektiert.
Auch ihre jüngste Protagonistin Johanna Schellmann bleibt bis zum Schluss
ein ambivalenter Charakter: Einerseits ist sie als Tochter aus wohlhabendem
Bürgerhaus ausgestattet mit zahlreichen Privilegien wie dem, ihre
Mutterrolle an Kindermädchen und Gouvernanten delegieren zu können.
## Raus aus dem Gesellschaftskorsett
Andererseits versucht sie aber auch, aus dem gesellschaftlichen Korsett
auszubrechen, zunächst durch die Liebesheirat mit Clemens, der ein seltener
Aufsteiger aus der Arbeiterklasse ist, dann durch ihr eigenes Schreiben.
Und hier beginnt die Verehrung und Verstrickung mit der frommen, kaum
gebildeten Anna, die Johanna inspiriert – und die sie doch verraten wird.
Emanzipation und die Klassengesellschaft im Kaiserreich spielten auch für
die Beelitzer Heilstätten eine Rolle; hier wurde bereits im 19. Jahrhundert
eine Art Kurort für die Arbeiterklasse errichtet, um die verheerenden
physischen und seelischen Folgen der Industrialisierung sowie der
pausenlosen Verfügbarkeit der Arbeiter:innen abzufedern – vielleicht
aber auch nur, um ihre Arbeitsfähigkeit zu verlängern.
Dass zur selben Zeit auch im Bürgertum das Interesse an Körperkultur und
Reformideen bis hin zu esoterischen Praktiken wuchs, zählt ebenfalls zu
den Schadensbegrenzungen und Folgekosten der entfesselten Moderne, die bis
in die Gegenwart reichen. Und nicht nur die Arbeiter emanzipierten sich,
auch wohlhabenden Bürgerinnen interessierten sich plötzlich für ihre
Freiheit und die „Frauenfrage“.
## Spannungspotenzial nicht ausgeschöpft
[2][Doch so vielschichtig die sozial- und kulturgeschichtlichen
Hintergründe auch sind und von Ulla Lenze in den Stoff mit eingewoben
werden], „Das Wohlbefinden“ schöpft sein Spannungspotenzial nicht voll aus.
Sowohl Vanessas Wohnungssuche als auch das langsame Wegdämmern der greisen
Johanna in die Demenz sind eher antiklimaktisch angelegt; und wenn Vanessa
mit einer Achtsamkeitsapp meditiert, wirkt das wie eine allzu konstruierte
Parallele zur wilhelminischen Esoterik.
Thrillermaterial findet sich noch am ehesten in der Konstellation
bürgerliche Schriftstellerin versus Medium aus der Arbeiterklasse. Beide
haben Vorbilder in der Geschichte, wie das Quellenverzeichnis am Ende des
Buches offenlegt: Während Anna der Spiritistin Anna Rothe nachempfunden
ist, die Anfang des 20. Jahrhunderts wegen Betrugs zu zehn Monaten
Gefängnis verurteilt wurde, hat Lenze bei Johanna das Schreiben aus
bürgerlich-weiblicher Perspektive interessiert, wie es etwa Gabriele Reuter
zur selben Zeit praktizierte.
Allerdings sind beide Figuren erzählperspektivisch nicht gleichberechtigt.
Während Johanna ihre Beziehungen fühlt und reflektiert, sei es die kaum
vorhandene zu ihren Kindern, die angespannte zum Dienstpersonal oder die
zunehmend krisenhafte mit Clemens, bleibt die alleinstehende Anna vor allem
Gegenstand der Betrachtung, durch die Ärzte oder Johanna. Und sie lässt
sich da kaum in die Karten gucken.
Nur einmal macht Lenze eine Ausnahme und erzählt die Reise nach München aus
Annas Perspektive. Die großbürgerlich-bohemehafte Séance bei
Schrenck-Notzing, in der ein lesbisches Paar als erotischer Leckerbissen
auftritt und in die nun auch Anna eingebaut wird, erlebt sie als großes
Theater – und implizit als Chance, endgültig der Dienstbotenzwangsarbeit zu
entkommen, für einmal Subjekt ihres eigenen Lebens zu werden.
Gelingt das auch Johanna, deren Ausgangsposition ungleich privilegierter
ist? Wieso weist sie Annas Bitte zurück, Johanna möge ihr Leben
aufschreiben? Dr. Angelika Röttel liegt, was Johannas Feminismus angeht,
wohl nicht ganz falsch. Leider trifft ihr zweiter Punkt auch ein wenig auf
„Das Wohlbefinden“ zu, obwohl Ulla Lenze eher das Hirn auf der Zunge trägt.
Wohl deshalb klingt die eigentlich unprätentiöse, kühl-melancholische
Erzählerin hier manchmal fast ein wenig hölzern, auch wenn so viele Themen
in ihrem Stoff stecken, und so anspruchsvoll sie auf drei Zeitebenen
verteilt und reflektiert werden.
6 Jan 2025
## LINKS
[1] /Ulla-Lenzes-Roman-Der-Empfaenger/!5675668
[2] /Rundreise-in-Indonesien/!5234567
## AUTOREN
Eva Behrendt
## TAGS
Kur
Historischer Roman
Gleichberechtigung
Bildende Kunst
Deutsche Geschichte
Brandenburg
Übersetzung
Olga Grjasnowa
Historischer Roman
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ausstellung über Mutterschaft: Madonnen und Milchflaschen
Das Thema Mutterschaft ist in der Kunstwelt angesagt. Der Düsseldorfer
Kunstpalast zeigt eine Ausstellung, die mehr in die Breite als in die Tiefe
geht.
Historischer Roman von Arno Frank: Ein unaufhaltsamer Aufstieg nach ganz unten
Eine Kleinstadt zwischen 1935 und 1945: Arno Frank begleitet im Roman
„Ginsterburg“ Deutsche, die sich nur allzu gerne der Nazi-Herrschaft
unterwerfen.
Nach zwei Gewalttaten bei Berlin: Verdächtiger geständig und in Haft
Zwei Gewalttaten in Beelitz bei Berlin lösen Bestürzung aus. Der in
Untersuchungshaft sitzende Verdächtige war zuvor nicht wegen Straftaten
aufgefallen.
Eine Begegnung mit Susan Bernofsky: Die Übersetzerin
In Deutschland wird gerade der 100. Geburtstag von Thomas Manns
„Zauberberg“ begangen. In New York sitzt Susan Bernofsky noch an einer
Neuübersetzung.
Neuer Roman von Olga Grjasnowa: Das ererbte Schweigen mit Fiktionen füllen
Bisher lehnte Olga Grjasnowa Kategorien wie Identität scharf ab. In ihrem
aktuellen Roman „Juli, August, September“ scheint sich das Blatt zu wenden.
Ulla Lenzes Roman „Der Empfänger“: Autoritäre Muster
Ulla Lenzes Roman „Der Empfänger“ erzählt vom Verdrängen von Erkenntniss…
Mitläufertum und Nazis im New York der Vorkriegszeit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.