# taz.de -- Neuer Roman von Monika Zeiner: Schwarze Pädagogik und Discofox | |
> In Monika Zeiners großem Epochenroman „Villa Sternbald“ schreiben | |
> Schulmöbel Geschichte. Die Autorin arbeitet mit abgründiger Melancholie | |
> und Ironie. | |
Bild: Disziplinierung von Kindesbeinen an, hier mit dem Geradehalter aus dem sp… | |
Man sollte sich nicht täuschen lassen. Dieser Roman ist weit mehr als eine | |
Wiederaufnahme des Thomas-Mann-Stils aus den „Buddenbrooks“. Sicher, Monika | |
Zeiners Roman beschreibt ebenfalls die Geschichte einer Unternehmerfamilie | |
über mehrere Generationen hinweg, und das mit langem Atem und einer | |
vermeintlich vertrauten realistischen Sprache. | |
Der Ich-Erzähler Nikolas ist ein vorerst letzter Spross der Dynastie Finck | |
im fränkischen Städtchen Gründlach, die mit Beginn des 19. Jahrhunderts | |
durch die Herstellung von Schul- und Büromöbeln reich geworden ist. Aber | |
all dies ist vor allem zu Form gewordene Ironie, mit Thomas Mann wird hier | |
in erster Linie nur gespielt. | |
Nikolas ist das schwarze Schaf der Familie und schlägt sich in Berlin als | |
eine Art Drehbuchautor durch, für mehr oder weniger obskure Fernsehserien. | |
In seinem Elternhaus ist er schon lange nicht mehr gewesen. Aber jetzt wird | |
dort der 103. Geburtstag seines Großvaters Henry gefeiert, und er fährt in | |
einer gewissen Haltlosigkeit hin und besichtigt seine Wurzeln. Seine | |
Freundin Ele fand seine Eltern einmal „sympathisch“. Seine Entgegnung | |
damals zeugt von den typischen Ausweglosigkeiten der Gegenwart: „Das ist ja | |
das Schlimme, dass sie so sympathisch sind!“ | |
Die Autorin Monika Zeiner ist 1971 geboren, und es ist erst ihr zweites | |
Buch. Ihr Debüt [1][„Die Ordnung der Sterne über Como“] war 2013 ein | |
Überraschungserfolg, sie kam damit bis auf die Shortlist des Deutschen | |
Buchpreises. Es war ein verspielter Roman über die deutsche | |
Italiensehnsucht, mit Selbstironie und vielen Abzweigungen, und außer, dass | |
sie über „Liebesmelancholie im Mittelalter“ promoviert wurde und Sängerin | |
einer Gruppe war, die sich programmatisch cool dem Italo-Pop widmete, | |
existierten kaum Informationen über sie. Seitdem hat man nichts mehr von | |
ihr gehört – bis zu diesem neuen Roman. | |
Zeiners Zitieren eines scheinbar behaglich-ironischen Erzähltons wirkt im | |
aktuellen Umfeld sehr eigen. Die „Villa Sternbald“ des Titels spielt wieder | |
auf das Italienmotiv an: In seinem Roman „Franz Sternbalds Wanderungen“ | |
ließ der romantische Schriftsteller Ludwig Tieck seinen Protagonisten, der | |
als Schüler des Renaissancemalers Albrecht Dürer eingeführt wird, eine | |
Bildungsreise ans Mittelmeer unternehmen. | |
Als Nikolas’ Ururgroßvater Ferry dann auf einer fränkischen Anhöhe die | |
„Villa Sternbald“ erbaut, wird das Ganze wieder deutsch geerdet. Ferry hat | |
die „Columbia“-Schulbank erfunden und ist damit reich geworden. In seinen | |
Gesprächen mit dem damaligen Oberschulamtsrat entsteht ein sehr genaues | |
Bild einer spezifisch deutschen „schwarzen Pädagogik“, und das ist die | |
erste der atmosphärisch dichten Historienerzählungen, die in Monika Zeiners | |
Roman eingestreut ist und die Familiengeschichte der Fincks grundiert. | |
Nikolas ist zwar keineswegs ein Hanno-Buddenbrook-Typ, aber etwas | |
künstlerisch Verlorenes und gesellschaftlich Untaugliches haftet ihm | |
dennoch an. Überhaupt scheint er sich mit seinen 42 Jahren mitten in einer | |
Lebenskrise zu befinden. Wenn er nach Berlin zurückkommt, soll er aus der | |
gemeinsamen Wohnung mit seiner Freundin Ele ausziehen. Auch deshalb bleibt | |
er viel länger in der Villa Sternbald, als er eigentlich wollte. | |
Er vergräbt sich in seine Familiengeschichte und verliert immer mehr den | |
Boden unter den Füßen. Dabei wird auf ästhetisch flirrende Weise eine | |
raffinierte Mischung aus Melancholie und Ironie ausbalanciert. Die | |
Finck’sche Schul- und Büromöbelfirma ist immer noch recht umsatzkräftig, | |
und man hat die Zeichen der Zeit erkannt und betreibt auch Kultursponsoring | |
als weichen Standortfaktor. | |
## Aus der Reihe tanzen | |
In einem Stipendiatenhäuschen im Garten wohnt Dr. Achaz, ein „50-jähriger | |
Nachwuchsliterat“, der die Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Firma | |
Finck schreiben soll. Nikolas und Achaz verbindet etwas. Argwöhnisch, als | |
Außenseiter, schauen sie gemeinsam auf das unternehmerische Treiben und das | |
bürgerliche Leben um sie herum. | |
Die Ahnengalerie der Fincks ist voller Überraschungen. Rätselhaft schillert | |
bis heute Nikolas’ Urgroßvater Jean, eine gebrochene Figur, die mit ihren | |
eher abseitigen Interessen bereits ein bisschen aus der Reihe zu tanzen | |
scheint. Sie initiiert mit ihrer Vorliebe für Insekten ein Leitmotiv in der | |
Familie, das bis zu Nikolas’ Neffen Johann reicht. | |
Zu Nikolas’ Irritationen gehört, dass mit ihm keineswegs die | |
Familiengeschichte aufhört – sein Bruder Sebastian führt die Firma | |
zeitgemäß fort, und der „beige Cordanzug“, den sich Nikolas von ihm | |
ausleiht, wird im weiteren Verlauf des Textes zu einem Quell bizarrer | |
Komik. Die Spiegelungen von Vergangenheit und Gegenwart führen in diesem | |
Roman zu unerwarteten Effekten, zu einem neuen scharfen Blick. | |
## Die Zeit des Nationalsozialismus | |
Die Zeit des Nationalsozialismus ist das Zentrum von Nikolas’ | |
Familienstudien, und in der Vorgeschichte deutet sich das mit einigen | |
Motiven an. Einer der Höhepunkte ist eine „Tannhäuser“-Aufführung 1927 in | |
der Nürnberger Oper. Da wird Jean Finck mit der bezaubernden Edith | |
konfrontiert, die schon seinen Vater Ferry verunsichert hat. Sie ist eine | |
bürgerlich kultivierte jüdische Dame, die ihm intellektuell offenkundig | |
überlegen ist. | |
Dieselbe Konstellation wiederholt sich eine Sitzreihe weiter: Jeans Sohn | |
Henry ist verliebt in Charlotte Stein, eine Jüdin aus einer weltoffenen, | |
ebenfalls unternehmerisch tätigen Familie. Dieses zwiespältige Gefühl von | |
Unterlegenheit und Bewunderung kann, das spürt man zwischen den Zeilen, | |
leicht in Ablehnung und Aggression umschlagen – ein zentrales deutsches | |
Dilemma. | |
Bei der Silvesterfeier 1932/33 werden derlei widersprüchliche Gefühle sehr | |
fein ausgesponnen. Anwesend sind Charlotte Stein und ihr Bruder Leonhard, | |
der Henry ebenfalls sehr anzieht, außerdem die blonde Schwimmerin Else, für | |
die sich wiederum Leonhard interessiert. „Irgendetwas wird beginnen, aber | |
was?“ heißt es hier. Man ahnt nicht, dass Hitlers Machtantritt kurz | |
bevorsteht. | |
## Die Firma wird „arisiert“ | |
Dass die Firma Stein „arisiert“ wird und die Firma Finck davon mächtig | |
profitiert, überführt den gesellschaftspolitischen Zivilisationsbruch auf | |
das engste persönliche Feld. Für Nikolas ist dies der Anlass, seine Familie | |
zur Kenntlichkeit zu entstellen. Monika Zeiners Roman ist geradezu | |
musikalisch komponiert, neben den Richard-Wagner-Motiven gibt es noch | |
etliche andere. So wirkt Nikolas’ frühere Freundin Katharina in ihrer | |
Haltung am Klavier wie eine Reprise von Charlotte Stein, nicht zuletzt, | |
weil sie an dem Blüthner-Flügel spielt, den die Familie Finck von der | |
Familie Stein im Zug der Arisierung „übernommen“ hat. | |
Solche Verweise ziehen sich wie beiläufig durch den Roman. Und die | |
[2][Konfrontation der „Tannhäuser“-Aufführung] aus der Vergangenheit mit | |
Discofox und Schneewalzer auf der fränkischen Kirchweih von heute ist von | |
großer satirischer Verve. | |
Man weiß gar nicht, was an diesem Roman mehr herausragt: das Geschichts- | |
oder das Gegenwartsbewusstsein. In Heimito von Doderers berühmter | |
„Strudlhofstiege“ aus den frühen 50er Jahren sprach der Untertitel von der | |
„Tiefe der Jahre“. Monika Zeiner verändert das in ihrem Untertitel zu einer | |
„Unschärfe der Jahre“. Diese Zeitdiagnose hat es in sich. | |
10 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Helmut Böttiger | |
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