# taz.de -- Roman „Notstand“ von Daisy Hildyard: Spuren des Unheils | |
> Zwischen Klima- und Strukturwandel: Daisy Hildyard erzählt in ihrem | |
> zweiten Roman „Notstand“ von kleinen Tragödien, die auf große | |
> Katastrophen hindeuten. | |
Bild: Schriftstellerin Daisy Hildyard | |
Das Unglück bringt die Menschheit enger zusammen. Katastrophen globalen | |
Ausmaßes, wie sie sich seit Anfang des letzten Jahrhunderts häufen, führen | |
auch zu einer neuen Sicht auf das Verhältnis scheinbar isolierter | |
Ereignisse und das, was wir verlegen „Welt“ nennen. | |
Kriege verbinden weit entfernte Regionen, lassen sie Partner- oder | |
Feindschaften eingehen. Blockierte Handelsrouten oder regionale | |
Immobilienblasen verursachen Wirtschafts- und Finanzkrisen. Und Pandemien | |
provozieren ganz neue Perspektiven auf das persönliche Verhalten. | |
Vor allem Corona und die Klimaerwärmung werden vielfach als Kräfte | |
maximaler Entgrenzung beschrieben, insofern sie die Entfernung zwischen dem | |
Singulären und Situativen sowie dem Planetaren einebnen. | |
In Bezug auf das Klima gilt für die heute Lebenden, dass Fragen danach, was | |
sie konsumieren oder wohin und wie sie reisen, nicht ohne Politik, nicht | |
ohne Moral zu haben sind, steht doch längst außer Zweifel, dass alles mit | |
allem zu tun hat. Genau das ist auch die Kernaussage des Romans „Notstand“ | |
der britischen Autorin Daisy Hildyard. | |
## Beinah noch vor dem Klimawandel | |
Ihre Erzählerin sitzt während des Lockdowns in einer Wohnung in der Stadt | |
und blickt zurück auf ihre Kindheit in einem kleinen Dorf im Norden | |
Englands. Als Grundschülerin streift sie durch Wald und über Wiesen, hilft | |
beim Bauern im Kuhstall aus und beobachtet Wildtiere. Es sind die | |
Neunziger, das letzte Jahrzehnt, in dem der Klimawandel zwar bereits längst | |
bekannt war, aber noch keinen großen Widerhall in Politik und Gesellschaft | |
fand. | |
Nunmehr, im Rückblick, sind da mit einem Mal überall die Spuren der großen | |
Welt zu erkennen – und die eines kommenden Unheils. Da sterben die Bäume | |
ab, da kämpfen Füchse, Mäuse und Kiebitze in den Nischen von Landwirtschaft | |
und Bergbau um ihre Existenz. | |
Da verlieren die Männer im Dorf ihre Jobs in einem von einer kanadischen | |
Firma betriebenen Steinbruch, weil eine Planstadt in China zu Ende gebaut | |
wurde und sie dort keinen Kies mehr benötigen. Da heuert eine Bekannte auf | |
einer Ölbohrinsel an, weil ihre Stelle bei der Feuerwehr gestrichen wird. | |
Die einzige lokale Jobalternative wäre ein Job in der Massentierhaltung | |
gewesen. | |
Das Idyll des Landlebens erweist sich als prekär. Die junge Protagonistin | |
könnte, so scheint es, auf ihren Streifzügen jederzeit einbrechen und in | |
einer nahen Katastrophe wieder auftauchen. Hildyard hat die Perspektive für | |
ihre Geschichte clever gewählt. | |
Als Kind ist die Erzählerin ständig in der Position, zu wenig zu wissen, um | |
eine Situation ganz zu erfassen. So bleiben zum Beispiel die | |
Persönlichkeiten und Verhältnisse der Erwachsenen zueinander in diesem Buch | |
oftmals unklar und verwirrend. Die Pointe an diesem Spiel mit der | |
Wahrnehmung ist, dass die Elterngeneration dieses Dorfes wiederum keinen | |
Blick für die Veränderungen in der Natur hat. | |
## Annäherung aus der Distanz | |
Sprachlich ist der Roman sauber und genau gearbeitet. Hildyard schreibt | |
schnörkellos, mitunter fast kühl, kann aber Landschaften und Situationen | |
sehr präzise und plastisch zeichnen. Man nähert sich ihren Bildern aus der | |
Distanz, vermisst vorsichtig und Schritt für Schritt Dorf und Umland. Mit | |
[1][Esther Kinsky] hat sie für ihre ersten auf Deutsch erschienen Roman | |
wohl die ideale Übersetzerin gefunden, kennt man doch auch von ihr als | |
Autorin ähnliche Geländegänge („Hain“, „Rombo“). | |
Als „Schule des Sehens“ bewirbt der Suhrkamp Verlag das Buch. Lesend soll | |
man sich hier sensibilisieren für die Verbindungslinien, für die globalen | |
Schuldverhältnisse, die täglich vor den eigenen Augen anfallen, auch für | |
die, die man selbst zu verantworten hat. Dieses Programm des Romans ist | |
aber auch ein bisschen sein Problem, kommt eine Schule doch nicht ohne | |
Didaktik aus. | |
Man fühlt sich schon ein bisschen belehrt. Zudem fordert der Roman große | |
Konzentration, ist viel Handlung hier doch nicht zu erwarten. Das | |
dramaturgische Mittel der Wahl ist die Addition, es passiert etwas und dann | |
passiert das Nächste. Was wohl für immer so weiter gehen könnte, endet nach | |
gut 200 Seiten dann überraschend plakativ. | |
1 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Esther-Kinsky-in-Leipzig-ausgezeichnet/!5489269 | |
## AUTOREN | |
Michael Wolf | |
## TAGS | |
Roman | |
Großbritannien | |
Strukturwandel | |
wochentaz | |
Feminismus | |
Literatur | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nina Bußmann „Drei Wochen im August“: Nur Dünen zwischen uns und dem Feuer | |
Urlaubsalltag im Anthropozän: In Nina Bußmanns unheimlichem Roman „Drei | |
Wochen im August“ gehen Bäume und Beziehungen in Flammen auf. | |
Anthologie-Buch „Und ich –“: Literarische Sammlung der Veränderungen | |
In der Anthologie „Und ich –“ erzählen 20 Autorinnen von Wendepunkten in | |
ihrem Leben. Marica Bodrožić, Zsuzsa Bánk und Claudia Hamm sind dabei. | |
Neuer Roman von Monika Zeiner: Schwarze Pädagogik und Discofox | |
In Monika Zeiners großem Epochenroman „Villa Sternbald“ schreiben | |
Schulmöbel Geschichte. Die Autorin arbeitet mit abgründiger Melancholie und | |
Ironie. | |
Neuer Roman von Joshua Groß: Vermessung der Kontaktzonen | |
Die Bewahrung der Natur und die Rettung des menschlichen Selbst – hängt das | |
zusammen? Autor Joshua Groß geht der Frage im Roman „Plasmatropfen“ nach. |