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# taz.de -- Neuer Roman von Joshua Groß: Vermessung der Kontaktzonen
> Die Bewahrung der Natur und die Rettung des menschlichen Selbst – hängt
> das zusammen? Autor Joshua Groß geht der Frage im Roman „Plasmatropfen“
> nach.
Bild: Wie viel ist ein kleiner Mensch der großen Welt schuldig? Bergsteiger in…
Der Klimawandel übt nicht nur Druck auf Politik, Wirtschaft und
Wissenschaft aus, sondern auch auf die Literatur. Als Beschreibungskunst
sieht sich vor allem die Prosa herausgefordert, die planetare Krise in
Geschichten nachzuvollziehen, wenn nicht sogar Spekulationen über mögliche
Zukünfte anzustellen. Daher rührt die Konjunktur des Nature Writings auf
der einen sowie ein beharrliches Interesse an utopischen, meist aber
dystopischen Entwürfen auf der anderen Seite.
Beide Spielarten eint ihre didaktische Tendenz. So beschreiben die
Protagonisten des [1][Nature Writings] nicht nur eine Veränderung von
Landschaften, sondern verbinden diese Beschreibung als eine des Verfalls
zumeist mit einer Anklage. Wahlweise ist der Kapitalismus, der Westen, das
Individuum schuld an der Misere. (Als wüsste man es nicht!)
Auch jene Poetiken, die sich mehr für die Spekulation, für die Zukunft der
Erde interessieren, beziehen oft eine moralische Position und verdammen in
der Rückschau Praxen des Wirtschaftens und Konsumierens, die zu der nun
genüsslich geschilderten Katastrophe geführt haben.
Oder aber, was erfreulicher ist, die Autoren neigen eher den positiven
Potenzialen der Science-Fiction zu und stiften wenigstens in künftigen
Gesellschaften Hoffnung, derweil in der Gegenwart nur die Auswahl zwischen
Verzicht oder Bezichtigung, zwischen schlechtem Gewissen oder Ignoranz
bleibt. Auch für die Utopien aber gilt, wie für die meisten literarischen
Reaktionen auf den Klimawandel, dass sie sich meist nicht für den Menschen
interessieren, sondern immer nur für seine soziale, ökonomische oder
politische Rolle im ökologischen Endspiel.
## Die Krise persönlich nehmen
Der 1989 geborene [2][Schriftsteller Joshua Groß] hingegen nimmt die Krise
maximal persönlich. Die Figuren seiner Romane sind oftmals auf eine
verborgene Weise mit ihrer Umwelt verbunden und kommen daher gar nicht erst
in die Verlegenheit, den Planeten mit den gleichen schrecklich langweiligen
Mitteln retten zu wollen, auf die wir, also alle jenseits der Buchdeckel,
zurückgreifen müssen.
Für Groß’ Personal ist die Bewahrung der Natur stattdessen mit der Rettung
des Selbst gleichbedeutend, das Wort Treibhausgas reimt sich bei ihm auf
Herz. Der stets gut gelaunte Sound seiner Bücher, die erwachsene Lockerheit
seines Tons täuschen nicht darüber hinweg, dass hier ein Romantiker am Werk
ist, ein Künstler, der nicht an eine Differenz zwischen Innen- und
Außenwelt glaubt.
In seinem neuen Roman „Plasmatropfen“ bringt er das auf spielerische, ja
fast ein bisschen simple Weise zum Ausdruck. Eine der Hauptfiguren ist der
Seismologe Lenell, der in der griechischen Kleinstadt Egio über die
Verwerfungen wacht, die durch das Aufeinandertreffen von Erdplatten an
dieser Stelle entstehen.
Er ist mithin der erste Wächter über eine Unordnung in der Tiefe, während
in ihm selbst viel größeres Chaos herrscht. Nach einer furchtbaren Kindheit
als Sohn einer Alkoholikerin ist Lenell schwer depressiv und akut
selbstmordgefährdet.
## Mit Telekinese den Verfall stoppen
Seine Partnerin, die erfolgreiche Künstlerin Helen, pflegt noch engere
Kontakte zur Natur. In der holländischen Küstenstadt Lelystad, wo sie
gerade eine Ausstellung vorbereitet, meint sie am Himmel „Normalnull“ zu
erkennen, also das Niveau des Meeresspiegels. Aber sie sieht nicht nur die
Zeichen der drohenden Katastrophe, die Lelystad im Verlauf des Romans
tatsächlich erreicht, sie ist auch noch mit einer deutlich spektakuläreren
Gabe ausgestattet. Helen hat telekinetische Fähigkeiten, sie kann Zustände
umkehren oder einen Verfall stoppen.
Immer wieder reist sie deshalb in den tauenden Permafrost, um kleine Stücke
der dortigen Böden wieder gefrieren zu lassen. Üblicherweise aber führt sie
ein ganz normales Leben, reist, widmet sich der Kunst und ihrer
Partnerschaft. Müsste sie nicht viel mehr ihrer Kraft und Zeit für den
Erhalt der Umwelt einsetzen? Geht ihre Gabe nicht mit einer Verantwortung
daher? Oder abstrakter ausgedrückt: Wie viel ist ein Mensch der Welt
schuldig?
Noch beharrlicher als in Bezug auf den Permafrost fühlt sich Helen mit
diesen Fragen konfrontiert, als Lenell sie darum bittet, ihre Kraft
einzusetzen, um ihn von seiner Depression zu heilen. Sie würde auf diese
Weise sein Leben retten, ahnt aber auch, dass ihr Partner daraufhin ein
anderer Mensch und ihre gemeinsame Zeit vorbei wäre.
Derweil kündigen sich noch weitere Beziehungsprobleme an. Denn Lenell hat
sich in jemand anderen verliebt. Das Objekt der Begierde heißt
„Spechtmensch“ und ist auch einer. Er hat den Körper eines Menschen und den
Kopf eines Spechts. Die Chimäre wohnt in einem großzügigen Anwesen in der
Nähe des Hauses von Helen und Lenell, wo sie sich an der Aufzucht
ausgestorbener Urwaldbäume versucht, Insekten jagt und an seinem
Privatstrand surfen geht.
Die interspezifische Affäre bahnt sich ohne größere Komplikationen an. Wenn
sie Basketball spielen, zieht sich Spechtmensch einen Schnabelschutz auf,
um Lenell nicht versehentlich zu verletzen, und nach dem Sex schläft er aus
demselben Grund von diesem abgewandt.
## Mythologisches zieht in den Roman ein
Wer noch nichts von Joshua Groß gelesen hat, wird es nun erahnen: So
entschlossen er sein poetologisches Programm verfolgt, so viel Freude hat
er auch an den frivolen Möglichkeiten des Schreibens. Man ahnt und
versteht, dass Joshua Groß sehr gerne Schriftsteller von Beruf ist, und
fühlt sich wohltuend daran erinnert, dass Literatur mit Originalität zu tun
hat und die wunderbare Gelegenheit bietet, in Büchern etwas anderes
vorzufinden als in der oftmals – seien wir ehrlich – ziemlich flachen
Wirklichkeit.
Mit der Chimäre auf der griechischen Insel zieht nun auch die Mythologie
ein in diesen Roman. Allerdings nicht als eine weitere Ebene, die zum
realistischen Setting (Liebesgeschichte) mit fantastischen Zügen
(Telekinese) hinzukäme.
Nein, hier fügt sich einfach, was für gut 250 Seiten zusammengehören soll.
Es lohnt im Übrigen nicht, darüber zu spekulieren, wie Spechtmensch zu
seinem Schnabel kam oder woher Helen ihre magischen Fähigkeiten hat.
Stattdessen heißt es, keine Zeit zu verlieren und lieber zu beobachten,
welche neuen Verbindungen und Potenziale sich hier ergeben.
## Intellektuelle Provisorien
Groß interessiert sich sehr für intellektuelle und künstlerische
Provisorien, das heißt für alles, was noch nicht zu Ende ist, noch nicht zu
Ende gedacht, gebaut und gelebt. Helen besucht schließlich ein ehemaliges
Einkaufszentrum in Lelystad, das von Autonomen besetzt und noch nicht
evakuiert wurde, da die ganze Gegend überschwemmt ist.
In diesem Setting, in denen andere Autoren von der Apokalypse erzählen
würden, deutet sich für Groß’ Hauptfigur ein neues Leben an. Damit ist
keine Botschaft verbunden, „Plasmatropfen“ ist kein politischer Roman, sehr
wohl aber rührt er an eine Ethik.
Der Autor erkundet die Übergänge, die Räume und Möglichkeiten zwischen
emotionalen und magischen Kapazitäten, Hoffnung und Depression, Wissen und
Mythos, zwischen einem Menschen und dem Beginn dessen, was dieser mit einem
anderen teilt. Letztlich geht es in „Plasmatropfen“ um die Vermessung von
Kontaktzonen, darum, wie man sich begegnet und wie und wann man am besten
Abschied voneinander nimmt.
Besonders ist, dass diese Reflexionen zu Beziehungen, Wahrnehmung und
mentaler Gesundheit mit dem Zustand von Erdplatten, Permafrostböden und dem
Meeresspiegel parallelisiert werden. Nicht nur die Seele, auch der Planet
ist in Unordnung. Liest man Groß, kommt man auf Ideen, wie beides
miteinander zu tun haben könnte.
29 Sep 2024
## LINKS
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[2] /Der-Roman-Prana-Extrem-von-Joshua-Gross/!5885488
## AUTOREN
Michael Wolf
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