# taz.de -- Buch über Kryptojünger: Was ist schon eine Million gegen zehn? | |
> Juan S. Guse hat Männer begleitet, die durch Kryptowährungen extrem reich | |
> geworden sind. Er fragt sich: Was macht das mit ihnen – und kann ich das | |
> auch? | |
Bild: Juan S. Guse folgt den Männern auf leisen Fersen, will sie verstehen sta… | |
Es gibt eine Szene in Juan S. Guses Buch „Tausendmal so viel Geld wie | |
jetzt“, da steht eine Salatschüssel voller AirPods Pro auf einer Kommode in | |
einer Berliner WG. Es ist eines der kleinen, aber wesentlichen Details, die | |
zeigen, was hier die feinen Unterschiede ausmacht (Pierre Bourdieu bemüht | |
Soziologe Guse in seinem Text später passend dazu auch noch). | |
Denn die Realität der Protagonisten seines Buches, die Allerweltsnamen wie | |
Arne, Basti oder Malte tragen, könnte einerseits nicht weiter entfernt sein | |
von, sagen wir mal, der einer Kassiererin bei Ikea oder eines Ingenieurs | |
bei VW. | |
Die Salatschüssel mit den teuren In-Ear-Kopfhörern, die hier achtlos | |
übereinanderliegen wie Bonbons, steht sinnbildlich für einen unermesslichen | |
Reichtum, erwirtschaftet durch den Kauf und Verkauf von Kryptowährungen. | |
Die Männer, die Guse für sein Buch trifft, sind in kürzester Zeit | |
Multimillionäre geworden, aber fahren einen alten Saab, gärtnern auf dem | |
Friedhof, zelten auf dem Campingplatz. Vor allem sind sie eins: Nerds mit | |
einem esoterischen Urvertrauen in eine neue Zeit, in der Tokens und die | |
Blockchain-Technologie die Zentralbanken nichtig werden lassen. | |
## Unterwegs in Subsytemen | |
Was ist „Tausendmal so viel Geld wie jetzt“ also für ein Buch? Guse | |
arbeitete sich in seinen literarischen Texten schon immer an irgendwie | |
verschobenen Realitäten von Preppern („Lärm und Wälder“) [1][oder Gamern | |
(„Miami Punk“)] ab und fühlt sich dementsprechend wohl in Subsystemen, | |
deren Codes man genau studieren muss, um sie zu durchdringen. Sein neues | |
Werk ist aber kein Roman, genau genommen nur am Rande ein literarischer | |
Text, sondern eine Art Mash-up aus teilnehmender Beobachtung, Reportage und | |
Essay. | |
Guse hat sich dafür auf Discord-Servern, in Subreddits und auf Twitter | |
herumgetrieben, um sogenannte Sleeper ausfindig zu machen. Sleeper, das | |
sind, bezogen auf Kryptowährungen, Menschen, die zwar zu Multimillionären | |
geworden sind, denen man das aber nicht ansieht. Das vermeintliche | |
hässliche Aschenputtel oder der libertäre Wolf im Schafspelz – | |
wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. | |
Am Anfang, das wird in Guses Text klar, steht immer eine Entfremdung von | |
den Arbeitsverhältnissen in unserer Gesellschaft, gepaart mit einer | |
Mischung aus Spieltrieb und Risikobereitschaft. Es stellt sich die Frage: | |
Ist Wohlstand in unserer Gesellschaft durch Lohnarbeit überhaupt noch zu | |
erreichen? Arne, Basti und Malte würden darauf mit Nein antworten. | |
Guse schreibt vom Begriff des „Lohnsklaven“, den [2][Noam Chomsky] im | |
Kontext der Industrialisierung für Fabrikarbeiter verwendete, der | |
mittlerweile aber eher von rechten Maskulinisten wie Andrew Tate genutzt | |
wird, um andere abzuwerten. Die Konsequenz: junge Männer, die erfolgreich | |
werden wollen um jeden Preis. Krypto bietet da einerseits einen guten | |
Ansatz, andererseits gibt es unzählige windige Scam-Maschen, und vor allem | |
braucht man eins: Startkapital. Es bleibt für viele ein unerfülltes | |
Versprechen. | |
## Erlösung von der „Lohnsklaverei“ | |
Nicht so für Arne, Basti und Malte. Für sie hieß die Erlösung von der | |
„Lohnsklaverei“ wahlweise Ohm, Quant oder Chainlink. Krypto, das hat viel | |
mit Glauben zu tun, und im Fall von Guses Protagonisten hat dieser Glaube | |
zu einem Klassenaufstieg geführt. Auch davon handelt dieses Buch. Basti, | |
der Sozialarbeiter, der nebenbei Gras anbaute, immer paranoider wurde und | |
seinen Gewinn schließlich in Krypto investierte. Arne, der | |
DB-Streckenplaner, der für sein Investment einen Kredit aufnahm. Malte, der | |
früher Zelte verkaufte. | |
Während sie mit Guse klettern, zelten oder in der WG mit der | |
AirPods-Salatschüssel chillen, zeigt sich ein Bild von Nerds, die sich aus | |
einer Mischung aus Hinweisen von anonymen Twitter-Accounts und der | |
Untersuchung dubioser Reddit-Threads ein vermeintliches Geheimwissen | |
erarbeitet haben. | |
Sie alle bezeichnen die Kryptowährungen der jeweils anderen als Betrug – | |
und ihre eigene als die einzig richtige. Immer dann, wenn Guse weiterbohrt, | |
offenbart sich: Eigentlich weiß niemand so richtig, was er da tut und mit | |
was er es zu tun hat. Das Geheimwissen ist nur so lange etwas wert, bis die | |
Kurse einbrechen. Guse, der schließlich ebenfalls in Ohm investiert, | |
verliert 2.000 Euro. | |
## Ambivalente Sehnsüchte | |
Das Schöne an diesem Buch ist, wie ruhig und wertfrei Guse hier über die | |
ambivalente Sehnsucht nach Wohlstand, Selbstständigkeit und den | |
Krypto-Rausch schreibt. Er folgt den Männern auf leisen Fersen, will sie | |
nicht entlarven, sondern verstehen – und versteht am Ende noch weniger als | |
zuvor. | |
Dazu passen die Guse-typischen, surreal anmutenden Alltagsszenen, die man | |
in ähnlicher Intensität etwa bei [3][Joshua Groß] findet: Der seltsame | |
Nebel in den Gassen Barcelonas, wo er eine Krypto-Konferenz besucht. Ein | |
Mann, der wie eingefroren auf einen Red-Bull-Kühlschrank starrt. Kaum | |
bekleidete Männer mit Helmen im Wald? Letzteres ist eine intertextuelle | |
Referenz auf den kommenden Roman Guses, [4][aus dem er bereits beim | |
Bachmannpreis 2022 vorlas.] „Man wusste nun, wie sie aussahen (hellhäutig, | |
eher klein), wie sie sich kleideten (kaum, Helm)“, heißt es an einer Stelle | |
über Lebensformen, die in einem Graben im Taunus entdeckt wurden. | |
Guse verwebt in seinem Text also die Realitäten der Kryptojünger mit seiner | |
eigenen Romanwelt, und das passt ja. Denn was Guses Buch eindrucksvoll | |
zeigt, ist doch: Eigentlich wissen wir gar nichts. Krypto-Geheimwissen kann | |
eine genauso gut erzählte Fiktion sein wie ein Roman. Der einzige | |
Unterschied ist, dass man durch einen Roman niemals zum Multimillionär | |
wird. | |
11 Jul 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Roman-Miami-Punk/!5587564 | |
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[4] /Bachmannpreis-fuer-Ana-Marwan/!5860846 | |
## AUTOREN | |
Johann Voigt | |
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