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# taz.de -- Roman „Miami Punk“: Lebensinhalt Computerspiel
> Die Fiktion als Gratwanderung zwischen Selbsttechnik und Selbsttäuschung:
> Juan Guses dystopischer Roman „Miami Punk“.
Bild: Im Szenario eines postatlantischen Miami erscheint das Leben als von Grun…
Der Rowdy Yates Komplex ist ein gewaltiger Betonklotz im Nordosten Miamis.
Mehrere Türme und Ebenen umfasst der Bau aus den 1970ern, sein Keller
schraubt sich tief in den sumpfigen Boden, und im verwaisten Erdgeschoss
trifft sich allabendlich ein spiritualistischer Kongress, dessen Ziel die
Erklärung der jüngsten Vorkommnisse in der Stadt ist. Den Wohnkomplex, sein
Innenleben und die besagten Vorkommnisse sind hineingedacht in ein
virtuelles Miami, wie es der Autor Juan S. Guse in seinem neuen Buch,
„Miami Punk“, entwirft.
Groß und verwinkelt, doch im Innersten unergründlich, thront der Klotz so
als Manifestation des 650 Seiten starken Romans massiv und sperrig über der
Stadt – in der zu Beginn die Katastrophe bereits eingetreten ist. Der immer
blaue Atlantik hat sich über Nacht zurückgezogen und damit auch die
ökonomische Lebensversicherung der Metropole. Zwischen Floridas Südspitze
und den Bahamas gähnt nun der leere Meeresgrund als lebensfeindliche Wüste.
Östlich davon erstreckt sich ein von Legenden umranktes Gebirge, in das
immer wieder kleine Stoßtrupps Zivilisationsmüder aufbrechen.
Das ist die Ausgangslage, um sie herum entwickelt Guse ein mosaikartiges
Geflecht aus Neben- und Haupthandlungen, das er aus wechselnder Sicht in 87
kurzen Kapiteln erzählt. Anhand eingerückter Dokumente sowie einer Handvoll
Figuren ergibt das ein Panorama vom Alltag der am Boden liegenden
Metropole. Mit den Zielen und Hoffnungen seines Personals bricht Guse im
Zerrspiegel der postatlantischen Fiktion dabei zugleich auch die eigene
Gegenwart. Denn der Lebensinhalt der Mitt- bis Endzwanziger besteht außer
der im Text omnipräsenten Arbeit vor allem aus dem Spielen und
Programmieren von Videospielen.
Wann und warum das alles geschieht, wird nur vage angedeutet – als
Jüngstvergangenheit tauchen immer wieder Serien und Games der frühen 2010er
Jahre auf, womit die Romangegenwart in etwa der unseren entsprechen dürfte.
Guse folgt dem Schicksal eines deutschen E-Sport-Teams, das zu einem
letzten großen Counter-Strike-1.6-Turnier nach Miami gereist ist. Und es
gibt quasi eine Hauptfigur: die in der Stadt beheimatete Robin, die an der
Vision eines sich selbst fortschreibenden epischen Spiels mit dem Titel
„Das Elend der Welt“ arbeitet, aber an sich und ihrer Kunst zweifelt.
Denn wie die meisten ihrer Altersgenossen fristet auch Robin tagsüber ein
Bürodasein in größter Langeweile und Leere. Als unterforderte ITlerin
erledigt sie Banalstes für einen ansässigen Biochemiekonzern. In dessen
Laborkellern, munkelt man, ließe sich allemal mehr über die wahren Gründe
für den Rückzug des Atlantiks herausfinden als in den eher esoterischen
Theorien des Kongresses, dem sich im Lauf des Romans bald auch Robins
Cousin Lint anschließt.
Wie Lint misstrauen viele in der Stadt den staatlichen Institutionen, immer
weiter dringt der junge Mann so in die utopischen Untiefen von Rowdy Yates
vor. Denn nur dort, in der Fiktion einer widerstandslosen Wirklichkeit,
finden Guses Figuren Alternativangebote zu einem „unwürdigen Leben zwischen
College, Hypothek, Internet und Mall“. Im Szenario eines postatlantischen
Miami erscheint das Leben als von Grund auf beschädigt.
## Privatfiktion einer geregelten Tätigkeit
Doch auch die vermeintlichen Alternativen tragen nicht weit. Anhand der
Fantasie eines spirituellen Neuanfangs in der Wüste sowie des Second Life
der PC-Games stellt der Roman die alltägliche Dosis Fiktion als
Gratwanderung zwischen Selbsttechnik und Selbsttäuschung dar. Denn sowohl
in den virtuellen als auch den utopischen Fluchtpunkten übersetzt sich
letztlich nur jener gesellschaftliche „Schlaf“ ins Digitale, der im Text
als allgegenwärtiges Phänomen jeden Morgen Tausende dazu veranlasst, trotz
längst erfolgter Kündigung weiter die Privatfiktion einer geregelten
Tätigkeit im Hafen Miamis aufrechtzuerhalten.
Hinter den Toren einer Gated Community lotete Guse bereits in seinem 2015
erschienenen Debüt, „Lärm und Wälder“, die Grenzen und Untiefen einer
künstlichen Realität aus. Auch in dem neuen Roman vermisst der 1989
geborene Autor die eigene Gegenwart unter den nur minimal zugespitzten
Bedingungen einer nicht allzu weit entfernten Zukunft.
Vom Verfahren her erinnert das an eine ganze Reihe großartiger Texte aus
den vergangenen Jahren: Ähnlich hochgelobten Kollegen wie Jakob Nolte oder
Leif Randt gelangen mit jeder Menge Fun, irre viel Material, aber stets
ohne die allzu große Geste ähnlich zeitgemäße Romane abseits der
biografischen Nabelschau.
Wie das experimentelle Debüt-Game seiner Hauptfigur Robin ist dabei
allerdings auch Guses Roman mit allerlei selbstreferenziellen Grüßen in
Richtung (Literatur-)Betrieb gespickt: jede Menge halbgare Bezüge, die als
bloße Geste den intertextuellen Verweis immer wieder ins Leere laufen
lassen. Genau wie all die zaunpfahlartigen Fährten, die der Text im
Überfluss legt und verwirft, taugt so letztlich auch der
Computerwissenschaftler nicht als Schlüssel zum Text, der, in ein
„abgeschmacktes Philip-K.-Dick-T-Shirt“ gekleidet, an einer Stelle zum
Thema „Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört, daran zu
glauben“ referiert.
Genau wie eine Einordnung in ein bestimmtes Genre würde diesem
vielschichtigen Text so ein Schlüssel ohnehin nicht gerecht. Allenfalls der
im Titel steckende Punk bietet für Erstere einen Anhaltspunkt. Denn aus dem
Cyberpunk entwickelte einst Bruce Sterling seine Idee vom Slip Stream als
einer genreübergreifenden Variante der SciFi. Als Kennzeichen diente ihm
dabei das Ausstellen jener existenziellen Fremdheit als Lebensgefühl des
20. Jahrhunderts, die auch Guses Text – genau wie den darin platzierten
Betonklotz – bisweilen wie einen gigantischen Fremdkörper wirken lässt:
„Rowdy Yates“, heißt es einmal, „war einfach da, eine neue Entität, mit…
man umgehen musste.“
Was mit dem Koloss letztlich geschieht, sei nicht verraten, nur so viel:
Gerade wenn man meint, dem Treiben in der Tiefe des Wohnturms auf die Spur
zu kommen, hebt der ganze Komplex mit einem Mal ab. Bis dahin hat der Roman
zwar gelegentlich seine Längen – aber um sich ordentlich verlaufen zu
können, braucht es vielleicht erst etwas Strecke.
1 May 2019
## AUTOREN
Michael Watzka
## TAGS
Juan Guse
Literatur
Miami
Dystopie
Games
Literatur
Software
Games
Literatur
Schwerpunkt Überwachung
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