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# taz.de -- Neuer Roman von Roman Ehrlich: Das Wasser steigt im Paradies
> Roman Ehrlich fährt an den Malediven vorbei und schreibt einen
> Untergangs- und Aussteigerroman. „Malé“ ist angesiedelt in einer nahen
> Zukunft.
Bild: Und die Straßen stehen unter Wasser: Malé, Hauptstadt der Malediven
Was werden wir tun, woran werden wir denken, wenn um uns herum das Land im
Meer zu versinken beginnt? Man kann auf solche pathetischen Fragen und
Gedanken kommen, wenn man den Roman „Malé“ liest.
Als Roman Ehrlich, 1983 geboren, mitten in der Arbeit an diesem Buch
steckte, machte er eine lange Schifffahrt. Mit dem Fotografen Michael
Disqué fuhr er von Hamburg nach Qingdao auf einem 365 Meter langen
Containerschiff. Die 40 Tage währende Fahrt muss sehr langweilig gewesen
sein, aber auch augenöffnend für die Arbeitsbedingungen in der
Globalisierung sowie die Kontingenz der Welt. (Daraus wurde ein anderes
Buch, der Text-Bild-Essay „Überfahrt“, Spector Books.)
„Nun also habe ich mich, in einem Anfall von verzweifeltem
Donquichottismus, selbst aus der enttäuschenden Wirklichkeit
herausschanghait und in den Dienst an Deck der Poesie gestellt. Die
Bezahlung ist miserabel und die Ozeane eben genau so weit, wie mein Wahn
grenzenlos ist“, lässt Roman Ehrlich in „Malé“ eine Figur schreiben. So…
Sätze, denkt man, könnten ihn auf dem Containerschiff eingefallen sein.
Doch darf man die Nähe von Text und Erfahrungen auch nicht zu eng denken.
[1][An den Malediven,] auf denen „Malé“ spielt – angesiedelt in einer na…
Zukunft, in der die Wasserspiegel angestiegen und die Inseln schon halb
untergegangen sind –, kam der Schriftsteller während der Fahrt auf
Sichtweite heran.
„An einem Morgen, als wir den Indischen Ozean durchquerten, waren mit dem
Fernglas von der Kommandobrücke aus am Horizont die Palmensilhouetten der
nördlichsten Atolle der Malediven zu sehen“, erzählt er in einem Interview.
Er ging nicht an Land, um zu recherchieren. Er fuhr vorbei. „Näher bin ich
dem Ort nie gekommen.“
## Die inneren Variationen der Figuren
Es gibt Literaturverständnisse, nach denen so etwas gar nicht geht.
Schreib, was du kennst, lautet die einschlägige Maxime. Aber mit dampfendem
Realismus und auch mit Authentizitätsgeboten hat Roman Ehrlich wenig am
Hut.
Er flüchtet aber auch nicht aus der Welt in den Text. Er fährt vorbei und
beobachtet von der Kommandobrücke des Erzählens mit dem Fernglas aus. Das
beschreibt die Art, wie er mit seinen Figuren umgeht, ganz gut. Wenn man
denn hinzunimmt, dass es dabei um das Wahrnehmen der inneren Vibrationen in
den Figuren geht.
„Wenn es noch um irgendwas gehen kann beim Schreiben“, lässt er eine andere
Figur sagen, „dann doch um das, was man eben nicht sofort erkennen kann,
das Nichtwissen, die Ratlosigkeit, die Schweigsamkeit der Dinge, die
Geheimnisse hinter den Symbolen und die Angst, die von diesem Unwissen, von
der Leere und der Sinnlosigkeit ausgeht.“
## Eine seltsame Ruhe
Vielen Schriftstellern würde man solche Sätze als Geraune ankreiden. Roman
Ehrlich nicht. Er hat einen – wenn man denn Lust darauf hat (so ganz von
selbst öffnet sich diesem Roman einem nicht, man muss als Leser*in schon
einiges investieren) – an dieser Stelle längst eingesponnen in ein Spiel
von Perspektiven und Gegenperspektiven.
Dabei beginnt „Malé“ sogar genau so, wie man es von einem Ökothriller
erwarten könnte. Ein Mann sitzt gefesselt in einem Raum, in den Wasser
eindringt. Ein direktes Bild für die Hilflosigkeit während der
Klimaerwärmung, könnte man denken. Der Mann wird ertrinken. Auf die
seltsame Ruhe, mit der er sein Schicksal registriert, wird man häufiger in
diesem Buch stoßen.
Aber das sind nur die ersten zwei Seiten, und dann springt der Roman auch
schon. Person nach Person wird eingeführt. Eigentümliche Namen, aus dem
Rahmen fallende, meistens von etwas getriebene Lebensläufe.
## Überleben in einer Luftblase
Da ist Frances Ford, die amerikanische Literaturwissenschaftlerin, die auf
deutschsprachige Lyrik spezialisiert ist. Da ist der Vater Elmar Bauch, der
seine totgeglaubte Tochter Mona Bauch sucht. Die muskulöse Niederländerin
Hedi Peck. Flavio Gentili. Valeria Lenín. Der übergewichtige
Romanschriftsteller Adel Politha. Der Lyriker July Frank. Der Schiffskoch
Harrison Odjegha Okeme, der als einziger aus einem gesunkenen Schiff
gerettet wird, er konnte in einer Luftblase überleben – und noch viele
mehr.
Zwei Dutzend Figuren stehen schließlich auf dem Notizzettel, der, um sich
Überblick zu verschaffen, bald wie von selbst neben einem auf dem Lesesofa
liegt. Sie alle haben sich in Malé versammelt, das von den meisten
Bewohnern längst verlassen worden ist.
Malé mit seinen Hochhäusern und Schmuddelecken, dem Hafen und Unterkünften
ist ein großartiger Handlungsort, um Fantasien zu hinterfragen: keine
Palmenträume, eher der Hinterhof und, als die Touristen noch kamen und
Ursprünglichkeit suchten, auch so etwas wie der Maschinenraum der
Naturinszenierungen der Malediven – auch die werden in dem Roman gründlich
hinterfragt.
## Reminiszenzen an alte Westberlin
Über die dystopische Lesart eines Untergangsromans rund um die
Klimaerwärmung legt sich ein anderes erzählerisches Muster. Manche Figuren,
so wird erzählt, hätten gern im alten Westberlin gelebt, als es noch eine
von einer Mauer umgebene Insel war, bevölkert von Aussteigern, die mit dem
sogenannten normalen Leben nichts anfangen konnten.
Von dieser Berlin-Reminiszenz aus liest man „Malé“ als Roman über hilflose
Realitätsflüchtlinge. Europa geht gerade unter, weltweit werden die
Küstenstädte aufgegeben, und in Malé versammeln sich die Wagemutigen, die
Künstler und Drop-outs, um sich noch einmal auszuleben, bevor es versinkt.
Zwischennutzung hieß das dann später im wiedervereinigten Berlin.
In die Drogenerfahrungen, teilweise abgefahrenen Lebensentwürfe und
Erlebnisse seiner Figuren – es gibt auch noch die „Eigentlichen“,
[2][bewaffnete Milizen,] die die Malediven kontrollieren und mit denen
nicht zu spaßen ist – zoomt Roman Ehrlich tief hinein. Ihrem Smalltalk und
oft auch hochgespannten Selbstaussagen (viele Figuren scheinen gut darin zu
sein, von sich zu erzählen) stehen sehr kühle personale Erzählpassagen
gegenüber.
## Kalte Geschliffenheit
Das Pathos und Durcheinander der Gedanken kontrastiert Roman Ehrlich mit
dem distanzierten Protokollstil der Erzählerinstanz: „Schließlich, als der
hochbegabte Multiinstrumentalist so lange ausschließlich schauend und
horchend auf der Insel der ehemaligen Hauptstadt der Malediven
herumgegangen ist …“ Oder: „Die Pilotin antwortet, dass man einfach
einsehen müsse, dass für diese Welt keine Hoffnung mehr bestehe.“
Von seiner ganzen Haltung her ist dieser Erzählstil in seiner kalten
Geschliffenheit so etwas wie das [3][Gegenteil einer erlebten Rede]. Die
Erzählinstanz hört die Figuren zwar, ihr ist das Innere der Figuren
zugänglich, aber er wahrt großen Abstand und lässt sich nicht mit ihnen
ein. Fernglas und Kommandobrücke eben.
Das führt vielleicht in den Kern dieses Erzählens. Es geht nicht darum,
erzählerisch Identifikation herzustellen. Sondern die Figuren werden
erzählerisch gewissermaßen gehört, durchfühlt und hinterfragt. Manche
Figuren können einem dennoch nahe kommen – den Namen Hedi Peck werde ich
wohl nicht mehr vergessen -, während andere Figuren fremd bleiben, der
Professor etwa, der in der Bar Blauer Heinrich (Romantikassoziationen
ausdrücklich erwünscht, „Casablanca“-Assoziationen nahegelegt) das
Aussteigerleben im Hintergrund organisiert.
## In der ersten oder letzten Reihe
Die Katastrophe ist längst geschehen, die Welt geht unter, und alle Figuren
sind mit sich selbst beschäftigt, und der Erzähler ordnet das ungerührt in
dem Nebeneinander eines erzählerischen Mosaiks an. Weltschiffbruch mit
Textbausteinen, so in der Art.
Und das Interessante an dem Schriftsteller Roman Ehrlich ist, dass man
zwischendurch immer wieder nicht weiß, wo er (wenn das Bild erlaubt ist) im
Klassenzimmer der deutschsprachigen Literatur denn sitzt. Ob doch bei den
nerdigen Gutaufpassern in der ersten Reihe. Oder ob bei den coolen Leuten
in der letzten Reihe, die in aller Unabhängigkeit ihr Ding durchziehen.
Sein Roman „Malé“ jedenfalls, es ist sein dritter, zieht einen immer wieder
rein. Das Lesen – statt reiner Rezeption eher eine Art befragender
Austausch: Wie passt diese Episode denn mit den anderen zusammen?, Wer war
diese Figur jetzt noch mal?, Was für eine Anspielung ist das jetzt wieder?
– vermittelt auch etwas Freies und sogar Spielerisches.
Und zwischendurch geht einem beim Lesen immer wieder sich selbst
hinterfragend auf, was man machen wird, während die Wasserspiegel steigen:
auf irgendeine Weise wird man mit sich selbst beschäftigt sein, so wie
Frances Ford, Elmar Bauch, Hedi Peck und all die anderen.
15 Oct 2020
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## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Literatur
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
Malediven
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Schwerpunkt Klimawandel
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Juan Guse
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