# taz.de -- Dystopischer Roman „Wie die Fliegen“: Der Humor im Anthropozän | |
> SciFi, Öko-Thriller, Liebesgeschichte: Samuel Hamen fragt in seinem Roman | |
> „Wie die Fliegen“, wie viel Leid ein Mensch und eine Menschheit ertragen | |
> kann. | |
Bild: In den meisten Landesteilen dieses „failed state“ geht es klimatisch … | |
Unter Gegenwartsliteratur fasst man alle Bücher, die zuletzt auf den Markt | |
kamen. Der Begriff formuliert jedoch zugleich einen Auftrag. | |
Gegenwartsliteratur, in einem engeren Sinne verstanden, sollte sich auch zu | |
der Zeit verhalten, in der sie entsteht. Eine beliebte Strategie beruht | |
darauf, momentane gesellschaftliche Entwicklungen mit einem Blick in die | |
Zukunft oder in die Vergangenheit zu beleuchten. | |
Wenn beispielsweise [1][Eugen Ruge] einen Roman mit dem Titel „Pompeji“ | |
schreibt, sollte man keine Geschichtsstunde über antiken Katastrophenschutz | |
erwarten, sondern eine Verhandlung sehr aktueller Bedrohungen. Und | |
natürlich geht es auch in der Science-Fiction eigentlich um sehr heutige | |
Ängste und Hoffnungen, die aus dem Morgen rückprojiziert werden. | |
Der 1988 geborene Luxemburger Samuel Hamen legt ein besonders ehrgeiziges | |
Projekt vor, spielt sein auf Deutsch verfasstes Debüt „Wie die Fliegen“ | |
doch in einer unbestimmten Zeit. Von jenseits der Buchseiten aus betrachtet | |
wirkt die Parallelwelt, in die er einlädt, mal wie eine nahe Zukunft, mal | |
wie eine durchaus bekannte Gegenwart, die allerdings von einer alternativen | |
Vergangenheit geprägt wurde. | |
Unklar, ob die Apokalypse in dieser Dystopie schon gelaufen ist oder der | |
finale Todesstoß noch bevorsteht. Hamen unterbreitet mithin der | |
pessimistischen Fantasie seiner Leserschaft Angebote, wie die Menschheit | |
auch noch zugrunde gehen könnte. | |
## Massensterben beschönigt | |
Der Ort des Geschehens ähnelt der USA, jedoch einer USA nach deren | |
Niedergang. Vor einigen Jahren verendete hier ein großer Teil der Tiere, | |
man bezeichnet das Massensterben beschönigend als „Dezimierung“. Nur in | |
wenigen Landesteilen erholt sich die Natur allmählich. In den meisten geht | |
es klimatisch steil bergab, Hitze und Stürme machen den Menschen zu | |
schaffen. Alle wollen sie in die Gebiete ausreisen, in denen noch ein | |
halbwegs komfortables Leben möglich ist, doch die Anträge auf Umsiedlung | |
werden in aller Regel abgelehnt. | |
Es rumort in diesem failed state, Rebellionen keimen, eine Künstlerin rührt | |
mit ihren Songs die Jugendlichen auf, immer mehr Einwohner verfallen einer | |
Droge namens Cheevl, deren Konsum auf gefährliche Weise die | |
Vorstellungskraft anregt. Der rigide Staatsapparat versucht mit seinem | |
Geheimdienst die Kontrolle zu bewahren. Als einer ihrer Agenten wird der | |
Erzähler in den Süden geschickt, um einen Vermisstenfall aufzudecken. Ein | |
Teenager ist vom Erdboden verschluckt, es gibt Indizien auf eine Gewalttat. | |
Der Fahnder kommt jedoch mehr schlecht als recht voran. Er trinkt viel zu | |
viel Pastis, fühlt sich verfolgt, traumatische Erinnerungen plagen ihn und | |
dann hat es auch noch eine Femme fatale auf ihn abgesehen. Selbst für | |
diesen routiniert schwermütigen Eigenbrötler ist das alles ein bisschen | |
viel. Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Stadt. | |
„Wie die Fliegen“ folgt oberflächlich den Regeln des Hard-Boiled-Crime im | |
Stile eines Raymond Chandler, der Erzähler blickt in einer Art Tagebuch auf | |
seinen Fall zurück, doch geht es um mehr als einen verschwundenen Teenager. | |
Die ewige Frage „Whodunit?“ korrespondiert hier mit der Suche nach einer | |
Theorie von allem für diese alternative Welt. Die Spuren führen in Richtung | |
des Instituts, eines Kraftwerks, das große Teile des Landes mit Energie | |
versorgt. | |
Hier wird eine rätselhafte Materie verarbeitet, auf die ein Forscherteam in | |
den 1870er Jahren stieß. Der Agent recherchiert in einem Forschungsbericht | |
deren Entdeckung, liest, wie ein Wissenschaftler nach einem Selbstversuch | |
mit dem Stoff in rasende Panik verfiel und danach vehement gegen seine | |
Nutzung argumentierte. | |
## Geht es eigentlich um Öl? | |
Ausgebeutet wird er seither gleichwohl, und man ist versucht, diese | |
Geschichte in der Geschichte als Analogie zu verstehen, als Verhandlung | |
ganz unliterarischer, sehr realer Gefahren. Geht es hier eigentlich um Öl? | |
Um Atomkraft? Um künstliche Intelligenz? Um Fortschrittsgläubigkeit? Oder | |
um Erinnerung? Rohstoffe und Technologie gehen in dieser Stadt jedenfalls | |
unheimliche Verbindungen mit dem Gefühlsleben der Menschen ein. | |
Auch der Ermittler ist vor ihnen nicht gefeit. Auf seinen Streifzügen durch | |
den Wald verfällt er in komatöse Zustände und erlebt wieder und wieder | |
schmerzhafte Erlebnisse aus seiner Jugend: den Selbstmord eines Freundes | |
und die Erziehungsmethoden des bösartigen Vaters. | |
In einem atmosphärisch ungeheuer dicht beschriebenen Flashback erfährt man, | |
wie dieser ihn im Kindesalter zur Beobachtung einer Sprengung zwang: „In | |
diesem Augenblick, während alles verschluckt wurde von einer Staubwolke, | |
die vom Boden aus hochschoss, während ihr der Schutt und Müll entgegenfiel, | |
in diesen Sekunden spürte ich etwas in mir, eine Einsicht, eine ganz | |
selbstverständliche Erkenntnis: Dann und dann kann es Sachen geben, einen | |
Bus, ein Glasdach, ein Gebäude, eine Idee, nur um kurz danach nicht mehr da | |
zu sein.“ | |
Das Trauma-Motiv ist beliebt in der zeitgenössischen Literatur. Figuren | |
werden mit schwersten seelischen Wunden ausgestattet, woraufhin man sie bei | |
der Heilung oder deren Scheitern begleitet. Es gibt sogar eine spöttische | |
Bezeichnung für diese Romane: „torture porn“. | |
## Aus Überdruss verendet | |
Auch Hamen greift das Motiv auf, doch drückt er nicht auf die Tränendrüse | |
und befriedigt bei seinen Lesern auch keine Lust an Schmerz oder Mitleid. | |
Sein Interesse ist intellektuell motiviert. Er fragt danach, wie viel | |
Erinnerung, und damit auch verbunden: wie viel Leid ein Mensch und eine | |
Menschheit ertragen kann. Was bedeutet es, wenn technisch gesehen | |
unendliche Informationen gespeichert werden können? Ist das Maß irgendwann | |
voll? Werden die Seelen streiken? Werden die Naturgesetze sich verschieben? | |
Einiges deutet darauf hin, dass die Tiere aus Überdruss verendet sind, dass | |
sie erdrückt wurden von all dem, was Menschen bereits gedacht, gesagt, | |
getan, was sie zerstört und verloren haben. | |
Hamens Roman reiht sich somit vortrefflich ein in eine Strömung | |
zeitgenössischer Literatur, die, oft von posthumanistischer Theorie | |
inspiriert, über das Anthropozän und seine Folgen spekuliert. Doch verirrt | |
er sich dabei weder, wie es leider oft geschieht, in naiver | |
Zukunftsgläubigkeit, pseudowissenschaftlicher Esoterik oder autoaggressivem | |
Hass auf die menschliche Spezies. Die Apokalypse, die hier dräut, ist | |
vielmehr Anlass zu einer Bestandsaufnahme des Bedrohten. | |
Das mag verkopft klingen, ist es aber kein bisschen, weil Hamen Humor hat | |
und ein außerordentlich talentierter Stilist ist. Vor allem versteht er es | |
meisterhaft, mit Genrekonventionen zu spielen. Noir, Science-Fiction, | |
[2][Öko-Thriller] und Liebesgeschichte treffen hier auf äußerst | |
unterhaltsame Weise aufeinander. Selten ist eine solche Melange, bestehen | |
auf dem deutschen Buchmarkt doch immer noch gewisse Berührungsängste zur | |
Genreliteratur. Sie mag sich gut verkaufen, darf deshalb aber noch lange | |
nicht als schöne Literatur firmieren. | |
Daran ist zunächst nichts auszusetzen. Wer es gestrig oder dünkelhaft | |
findet, zwischen E und U zu unterscheiden, müsste Sebastian Fitzek jedes | |
Jahr den Büchner-Preis zusprechen. Bedauerlich ist gleichwohl, dass diese | |
starre Abgrenzung unter Autorinnen und Autoren eine Furcht vor dem Genre | |
motiviert, obwohl das Spiel mit dessen Versatzstücken anregende Resultate | |
zeitigen kann. „Wie die Fliegen“ liest sich, als hätte Philipp Marlowe in | |
Twin Peaks ein Warp-Loch entdeckt und wäre unversehens in die fantastischen | |
Welten der Strugazki-Brüder gestürzt. Herauskommt dabei eine sehr | |
gegenwärtige Dystopie, die großen Spaß macht. | |
7 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Michael Wolf | |
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