# taz.de -- Neuer Roman von Bov Bjerg: Gefühle in Überdosis | |
> Heute erscheint Bov Bjergs neuer satirisch-dystopischer Roman. „Der | |
> Vorweiner“ erzählt von einer medial und emotional kontrollierten | |
> Klassengesellschaft. | |
Bild: Wellenbrecher aus Beton helfen wenig, wenn die Katastrophe schon eingetre… | |
War es ein Ball, der auf der Straße lag? Oder doch ein Gürteltier? Eher | |
unwahrscheinlich, lebt das kleine Schuppenvieh doch in anderen Regionen der | |
Welt. Aber was ist hier schon normal? Anna bremste jedenfalls nicht oder | |
fuhr einen Bogen, sondern „hielt auf die Kugel zu und nahm sie zwischen die | |
Räder.“ Im Rückspiegel meinte die Fahrerin doch ein „Halbrund auf Stelzen… | |
zu erkennen, das „mit Trippelschritten im Unterholz“ verschwand. Da hatte | |
das Tier noch einmal Glück gehabt. Oder was war da wirklich los? | |
Die Szene wird erst am Ende von Bov Bjergs neuem Roman „Der Vorweiner“ | |
wieder aufgenommen, aber keineswegs aufgelöst. Denn die Frage, ob das Tier | |
eine Vision ist, vielleicht Ausdruck des schlechten Gewissens oder ein | |
Zeichen der Hoffnung, gar ein rätselhaftes MacGuffin, muss die Leserschaft | |
selbst entscheiden. | |
Das Gürteltier jedenfalls führt in eine Romanwelt, die in nicht allzu | |
ferner Zukunft zu liegen scheint: Kriege und [1][Naturkatastrophen haben | |
die Erde verwüstet]. Jenseits von kleinen Regenzonen scheint überall die | |
Sonne. Schnee und Eis sind verschwunden. Ein riesiger Betonblock schützt | |
„Resteuropa“ vor gewaltigen Wassermassen. | |
Bjerg beschreibt in der für ihn typischen, nämlich wortkargen Weise eine | |
exhibitionistische Verlustgesellschaft, in der die Menschen durch mediale | |
Rundumüberwachung kontrolliert werden und jeder Kontrollverlust ein | |
öffentliches Ereignis ist. | |
## Warnung vor Gewalt gegen Schnecken | |
Verliert beispielsweise eine Mutter ihr Kind, ist das die wichtigste | |
Meldung im Nachrichtenprogramm – die nicht nur gendergerecht vorgetragen, | |
sondern immer auch mit akustischem Terror verbunden wird: „Seit diesem | |
schrecklichen Erlebnis hat die Frau nicht aufgehört zu schreien. Wir wollen | |
unseren Hörer:innen die Schreie der Mutter nicht vorenthalten.“ | |
Weil der 1965 im schwäbischen Heiningen geborene Schriftsteller in seiner | |
grotesken Dystopie von ökologischen und gesellschaftlichen Verhältnissen | |
erzählt, die völlig gestört sind, kann sich auch die Prosa nicht immer an | |
herkömmliche Konstruktionsprinzipien halten. So beginnt der Text mit dem | |
zweiten Kapitel. | |
Vor jedem Abschnitt gibt es so seltsame wie lustige Triggerhinweise zu | |
lesen, die vor Gewalt gegen Schnecken, Bahnreisen und Dosenananas, | |
Alkoholkonsum, aber auch vor Muckefuck warnen. Dass damit keine sexuelle | |
Handlung gemeint ist, kann in der streckenweise schrecklich realistisch | |
wirkenden Romanwelt nicht vorausgesetzt werden. | |
## Falschwahre Meldungen | |
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Anna und ihre Tochter Berta, die aus | |
Gründen der plakativen Allgemeingültigkeit konsequent A wie Anna und B wie | |
Berta genannt werden. Die Mutter gehört der Vergangenheit an, hat | |
Kunstgeschichte studiert und als Kuratorin gearbeitet. | |
Die Tochter hingegen ist ein Kind der neuen Zeit, schreibt falschwahre | |
Meldungen für eine „Agentur für Spannende Nachrichten“. Über sich selbst | |
spricht Berta in der dritten Person, und zwar völlig schambefreit: „Sie ist | |
gut in ihrem Beruf. Sie hat einen Meister in Modern Journalism Schrägstrich | |
Neuzeitliche Schreibe fürs Hören. Sie ist eine erfolgreiche, gern gebuchte | |
Klickbeuterin.“ | |
B wie Berta ist die überheblich achtsame, aber völlig mitleidslose | |
Erzählerin in diesem Roman. Und sie ist der Star einer pervertierten | |
Medien- und Dienstleistungsgesellschaft. Das Verhältnis zur Mutter ist so | |
dysfunktional wie fast alle Beziehungen in diesem Roman. Vielleicht liegt | |
es an einem traumatischen Erlebnis in der Kindheit. Der Vater ist früh | |
gestorben, angeblich Suizid. Aber möglicherweise hat auch die Mutter den | |
Mann mit einem Bolzenschussgerät umgebracht – und das Kind hat alles | |
beobachtet. | |
## Blutorgie mit Schwein | |
Das legt jedenfalls eine Erzählsequenz vom sogenannten Gottesauge nahe, | |
einer Art Kamera mit eingebauter künstlicher Hyperintelligenz. Ohnehin | |
werden die Lebenswege von Mutter und Tochter auf unterschiedlichen | |
Erzählebenen durchleuchtet. | |
Ob wir damit der Wahrheit näherkommen, ist fraglich, denn in diesem Roman | |
werden frei nach Orwell aus allerlei Lügen alternative Fakten kreiert. Das | |
betrifft beispielsweise auch die Klassenverhältnisse, die immer wieder zu | |
Konflikten führen. „Die Niederschicht ist dauerhaft gezähmt“, behauptet | |
Anna und übernimmt damit die Position der „Hauptstrommedien“. Die | |
Proteststürme der Ausgebeuteten gibt es trotzdem. | |
Was Anna und Berta als Vertreterinnen der herrschenden Kaste wiederum | |
verbindet, ist ihre Sucht nach Erlebnissen, die in der sterilen Welt noch | |
echte Emotionen evozieren. Anna plant glatt, Kartoffeln mit den Händen | |
auszugraben! Oder undichte Fenster selbst zu kitten! Doch nicht mal | |
Feldarbeit und Handwerk befriedigen die Frau. Weil ziemlich viel verboten | |
ist, was Spaß machen könnte, lässt Berta ihren Freund mit einer Pizza | |
Hawaii kopulieren und Anna veranstaltet eine esoterische Blutorgie mit | |
Schwein. | |
## Der gnadenlose Diskurskiller | |
Vielleicht liefert das Verpönte den ersehnten Kick: „Das Gesetz erlaubte es | |
nur noch, in Schlachthöfen zu schlachten, maschinell, weil die Menschen | |
sonst verrohten. Doch die Sitten der Niederschicht genossen auf vielen | |
Gebieten Bestandsschutz, und manche Sitte, hieß es, stehe ganz offiziell im | |
Range eines partiellen immateriellen Weltkulturerbes.“ | |
Bov Bjerg räumt Seite für Seite nahezu jede politische Debatte ab, die in | |
letzter Zeit geführt wurde. Seine Prosa ist ein gnadenloser Diskurskiller. | |
Doch wer meint, es handele sich um Lesebühnenprosa, die nur auf die nächste | |
Pointe schielt, irrt gewaltig. Denn im Kern geht es um eine ziemlich | |
traurige Entwicklung, die sehr präzise geschildert wird. Die Menschen haben | |
nämlich wegen der Vorgabe, alles richtig machen zu müssen, sich längst zu | |
vereinsamten und abgestumpften Individuen entwickelt. | |
Nicht einmal Trauer empfinden sie mehr. Begüterte Leute wie Anna können | |
sich immerhin einen sogenannten „Vorweiner“ leisten, der im Sterbefall so | |
herzergreifend flennt, auf dass der Tränenfluss der Anwesenden stimuliert | |
werde. Bestattungen heißen hier „Zerstreuungsfeiern“, weil die Asche der | |
Verstorbenen nicht im Beton versenkt werden darf, sondern in alle | |
Richtungen verstreut werden muss. Die Lebenden sind vom Tod besessen, aber | |
weil jede Zerstreuungsfeier im Fernsehen übertragen wird, interessiert sich | |
niemand mehr für das Sterben der anderen. | |
## Tode fachgerecht beweinen | |
Die Vorweiner werden in aller Regel aus migrantischen Milieus rekrutiert. | |
Durch die Kriege und Naturkatastrophen gibt es viele Flüchtlinge, die in | |
Auffanglagern wie Neuschwanstein oder Neulübeck interniert sind. Und leider | |
sind wieder die Falschen gekommen. Die Vorweiner aus den untergegangenen | |
Niederlanden oder dem politisch implodierten Österreich sind nämlich | |
äußerst unbeliebt. Es hat sich hingegen herumgesprochen, dass die Menschen | |
aus Westafrika eine „gewisse natürliche Melancholie mit sich“ bringen, um | |
dann einen Tod „fachgerecht und mitreißend zu beweinen“. | |
„Der Vorweiner“ erzählt überzeugend, was mit der menschlichen Psyche | |
passiert, die mit einer Überdosis permanenter Gefühlsinszenierungen | |
malträtiert wird. Dem Roman fehlt daher sehr bewusst ein | |
emotional-narratives Element, das uns die Figuren „näher“ bringt. Es ist | |
kein Zufall, dass vermeintliche Nebenfiguren aus der „Niederschicht“ | |
vielleicht etwas feinsinniger, aber bloß nicht zu tiefsinnig gezeichnet | |
werden. | |
Das literarische Programm besteht in der größtmöglichen Desillusionierung | |
in einer Großkrise der Menschheit. Das erinnert an den berühmten | |
Barockschriftsteller Grimmelshausen, der seinen Simplicissimus Teutsch von | |
den Verheerungen in Europa nach dem Dreißigjährigen Krieg berichten ließ. | |
## Neobarocker Blick in die Zukunft | |
Tatsächlich verweist nicht nur die postapokalyptische Stimmung in „Der | |
Vorweiner“ auf das historische Vorbild, immer wieder wechseln Stil, | |
Perspektive und Tonlage – wie es auch für Grimmelshausen typisch ist. Nur | |
dass wir es bei Bjerg mit einer Simplicissima zu tun haben, die auch vor | |
einem Mord nicht zurückschreckt und den – sehr zeitgemäß – als Akt der | |
Selbstermächtigung verbrämt. | |
Bjerg spielt in seinen Werken immer wieder mit Versatzstücken aus der | |
Popkultur. Im neuen Buch säuft die Jugend merkwürdige Getränke aus | |
Einhornpulver und amüsiert sich in surrealen Clubs, als befände man sich in | |
einer kruden Star-Wars-Nebenserie. Für die Fans des Autors gibt es zudem | |
einige Verweise auf die Vorgängerromane zu entdecken, etwa wenn Annas | |
Vorweiner in ein matschiges Kohl-Kartoffel-Gericht, das sich wie ein | |
kleiner Hügel vom Teller erhebt, mit einem Löffel kleine [2][„Serpentinen�… | |
eindrückt. | |
Der Tod ist in allen Büchern Bjergs präsent. Bislang hat sich der | |
Schriftsteller mit vergangenen Lebenskrisen und mit dem Selbstzweifel | |
seiner Figuren befasst, die in der herausfordernden Gegenwart verortet | |
sind. Sein neobarocker Blick in die Zukunft liest sich nun als | |
düster-visionärer Komplementärtext, der keine Hoffnung mehr anbietet auf | |
die Gesundung der menschlichen Seele – wenn da nicht dieses drollige | |
Gürteltier wäre. | |
31 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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