| # taz.de -- Bov Bjergs neuer Roman „Serpentinen“: Aus der Spur des Lebens g… | |
| > Auf „Auerhaus“ folgt „Serpentinen“: In Bov Bjergs neuem Roman schling… | |
| > ein Vater mit seinem Sohn durch die Abgründe depressiver Herkunft. | |
| Bild: In „Serpentinen“ liegt die Depression als Fluch über der Familie | |
| Ein Vater und sein Sohn bereisen die Herkunftsgegend des Vaters. Grün und | |
| hügelig ist es da, mit Straßen voller beeindruckender Serpentinen, die der | |
| Junge liebt. Zusammen steigen sie einen Berg hinauf, besichtigen Ammoniten, | |
| klauen nachts Cola aus der Küche der Pensionswirtin. Schön – wären da nur | |
| nicht die unzähligen Dosen Bier, die Schuldgefühle und der „Schwarze Gott�… | |
| Mit diesem mythisch aufgeladenen, fast schon beschönigenden Begriff benennt | |
| Bov Bjerg in seinem Roman „Serpentinen“ eine Volkskrankheit, an der | |
| schätzungsweise fünf bis sechs Millionen Deutsche leiden. Über die man aber | |
| nicht viel spricht. | |
| In „Serpentinen“ liegt die Depression als Fluch über der Familie. Schon den | |
| Urgroßvater trieb sie ins Wasser. Führte später die Pistolen-Hand des | |
| Großvaters an die Schläfe. Und zurrte schließlich das Gipserseil am Hals | |
| des Vaters fest. Dessen Sohn, der nächste in der Reihe, hat bislang gerade | |
| noch immer die Kurve gekriegt. Er schlingert nun mit seinem acht-oder | |
| neunjährigen Kind durch die Abgründe von Seele und Familiengeschichte. Wird | |
| er auf der Reise vollenden, was die Herkunft scheinbar nahelegt? | |
| Zu beschönigen, das liegt nicht in der Absicht des Autors. Im Gegenteil. | |
| Sein „Schwarzer Gott“ ist ein vieles abwürgendes Übel, mächtig, beharren… | |
| unerbittlich. Die vermeintliche Unabwendbarkeit des Schicksals hängt über | |
| der Handlung wie ein mitleidloser Aasgeier, der von oben zusieht. Und | |
| wartet. | |
| ## Wird er sie beide töten? | |
| Bjergs Roman „Serpentinen“ lebt von der bangen Spannung, die aus der Sorge | |
| um das konsequent „der Junge“ genannte Kind entsteht, dieses lebenslustige, | |
| kletternde Kerlchen, das allein ist mit seinem kranken Vater, der das Handy | |
| aus hat und unter falschem Namen reist. Wird er ihm etwas antun, wird er | |
| sich oder beide töten? | |
| „Wenn die Entscheidung gefällt war, war alles einfach. Wenn die Arme | |
| durchgedrückt waren, war alles einfach, selbst wenn sich unter dem Kissen | |
| noch etwas bewegte. Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ Nach | |
| Textstellen wie dieser ist man fix und fertig aber dann geht es doch wieder | |
| weiter. Alles nur ein Gedanke im Kopf des Vaters. Nicht mehr. Noch nicht? | |
| Parallel zu dieser finsteren Suspense-Story fächert der Autor noch tiefere | |
| Bedeutungsschichten auf. Da ist die Innenwahrnehmung des Depressiven, | |
| erzählt als Trost- und Sprachlosigkeit. Eine, die selbst aus der | |
| pittoresken Schwäbischen Alb eine Giftmülldeponie macht und aus der | |
| Vaterliebe eine nur mühsam gezügelte Auslöschungsfantasie. | |
| „Alles ist vergiftet“, so beschrieb mir einmal ein an Depression erkrankter | |
| Freund seinen Gemütszustand. Die Landschaft, die Kindheit, die | |
| Erinnerungen, die Liebe. Der Schriftsteller Bov Bjerg hat dieses | |
| Grundgefühl so gut eingefangen, dass es einem das Herz zusammenzieht. | |
| Seinem Vater-Protagonisten hat er eine Vernichtungsobsession verpasst: „Ich | |
| sah eine Autobahn und dachte: Nazis. Ich sah Gleise und dachte: | |
| Deportationen.“ | |
| Wo andere bloß ein Schild sehen, das auf die Europäische Hauptwasserscheide | |
| hinweist, stellt der sich zwanghaft Ströme von Pisse, Blut, Leichenwasser | |
| vor, die zur Donau und ins Schwarze Meer oder zur Elbe, in die Nordsee | |
| hinab fließen. | |
| ## Überall Hässlichkeit und Elend | |
| Überall Gewalt, Hässlichkeit und Elend. Und in bestimmten Augenblicken wird | |
| diese Wahrnehmung durch eine Über-Ich-Instanz namens „DIE GROSSE BRILLE“ | |
| (der gesunde Teil der Persönlichkeit? Ein Psychiater?) analysiert. Doch | |
| unter dem Wahn der Depression schimmert noch eine weitere | |
| Bedeutungsschicht, quasi der Bodensatz der Geschichte. | |
| Die echte Gewalt wurde begangen vom Vater, der gerne zur SA gewollt hätte, | |
| aber ein „Nazi der Meinung“ bleiben musste und Frau und Kinder prügelte. | |
| Die Gewalt wohnte in den Wohnstuben, Bierkneipen und Schlafzimmern der | |
| Nachbarn. Sie war in die Leben der Mütter eingeschrieben und in die der | |
| Söhne: „Selbstverständlich wäre es besser gewesen für Wolfgang und für R… | |
| Beck, wenn sie die Männer ihrer Mütter getötet hätten. […] Die | |
| Schweinereien nicht mehr hinzunehmen. Das Dulden nicht mehr zu erben.“ | |
| Doch die Söhne tun es nicht, sie tragen weiter an ihrer Wut, die Frauen | |
| nähren im Stillen ihren Hass. All das wäre schwer zu ertragen, wenn nicht | |
| immer auch finster-komische Momente dabei wären. Etwa der spektakuläre | |
| Auftritt des besoffenen Vater-Protagonisten beim gediegenen Arbeitsessen | |
| seiner Juristengattin. | |
| Und da ist immer auch noch die Hoffnung, dass Liebe die toxischen | |
| Herkunftsverhältnisse überwinden könnte. Bov Bjerg hat sich nach [1][seinem | |
| gefeierten Debüt „Auerhaus“] diesmal noch tiefer in die Abgründe der | |
| bundesdeutschen Realität geschrieben. Man folgt ihm dabei nur zu gern. | |
| 14 Feb 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nina Apin | |
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