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# taz.de -- Roman „Die Privilegierten“: Schuldlos Schuldige
> Aktuell reiht sich Krise an Krise. Wer würde das nicht gerne verdrängen?
> Thomas von Steinaecker erzählt von einem Mann, der groß darin ist.
Bild: Als Einsiedler in den norwegischen Wäldern blickt der Held auf sein Lebe…
Das Motto, das am Anfang von „Die Privilegierten“ steht, führt ins Herz
dieses hervorragenden Romans. Thomas von Steinaecker zitiert einen Auszug
aus A. A. Milnes „Pu baut ein Haus“. Der Bär, Ferkel und Christopher Robin
diskutieren über ein bestimmtes Verhalten Tigers. Dieser meine es bestimmt
nicht böse, sagt Ferkel, was von Pu bekräftigt wird: „Alle meinen es
eigentlich nicht böse; das finde ich wenigstens.“ Genau darum wird es in
„Die Privilegierten“ dann gehen: dass niemand, der auftritt, es böse meint
– und dennoch geht alles, fast alles fürchterlich schief.
„Die Privilegierten“ ist der sechste Roman Thomas von Steinaeckers; ihn
ausschließlich als Romancier zu bezeichnen wäre dennoch zu kurz gegriffen.
Er ist ein ungewöhnlich vielseitiger Autor, der auch Dokumentarfilme für
Fernsehen und Kino dreht, kürzlich über [1][Werner Herzog („Radical
Dreamer“)]. Mit „Ende offen“ hat er im vergangenen Jahr ein viel beachtet…
Sachbuch über Fragment gebliebene Kunstwerke veröffentlicht.
Zudem ist er Comickritiker und -szenarist: Ebenfalls 2022 kam
[2][„Stockhausen – Der Mann vom Sirius“] heraus, der erste Teil einer
zweibändigen, umfangreichen Graphic Novel. In einer ungewöhnlichen
Verknüpfung von Biografie und Autobiografie schildert Steinaecker hier
sowohl das Leben des Avantgardekomponisten als auch die enge persönliche
Verbindung, die er als junger Mann zu diesem besaß.
Wie „Der Mann vom Sirius“ beginnt „Die Privilegierten“ in der bayerisch…
Provinz, in Oberviechtach. Bastian Klecka, der Icherzähler – geboren 1982
und damit fünf Jahre jünger als sein Autor – ist gerade vier, als seine
Eltern mit dem Auto tödlich verunglücken. Er wächst daher bei seinem
Großvater auf, einem Thomas-Mann-Forscher und Bildungsbürger alter Schule,
der „Höhenkammkunst“ schätzt und für den das Fernsehen der „Inbegriff …
Totalverblödung“ ist.
Eine Brücke zwischen ihm und seinem Enkel schlägt vor allem das gemeinsame,
konzentrierte Hören von Kunstmusik. Aus der Isolation des Waisenkinds
befreit Bastian die Freundschaft mit dem „Öko-Mädchen“ Madita und dem aus
Rumänien stammenden Ilie.
## Karriere beim Virtual Reality-TV
Erwachsen geworden, strebt Bastian zunächst das Lehramt an, macht dann aber
Karriere beim Fernsehen, wo er zunehmend im Bereich der Virtual Reality
tätig ist. Eines seiner Projekte ist der „Retro-Room“, eine VR-Version der
in den 1990ern beliebten Show „Jeopardy“ mit Frank Elstner. Ebenfalls
erfolgreich ist seine Frau Brigitte, die es bis zur Schuldirektorin bringt,
auch wenn sie für Bastians Aktivitäten einige Opfer bringen muss.
Samy, der einzige Sohn des Paars, erweist sich als hochbegabt, bricht zum
großen Leidwesen der Eltern aber sein Medizinstudium ab, um für die
gemeinnützige Organisation „Menschen“ an sozialen Brennpunkten zu arbeiten.
All dies wird in einer nahezu den ganzen Roman umfassenden Rückblende aus
der Sicht des gealterten Bastian erzählt, der in den 2040ern als Einsiedler
in den norwegischen Wäldern lebt und nicht weiß, ob er den Winter überleben
wird.
Je mehr die Handlung voranschreitet, desto mehr wird „Die Privilegierten“
zu einem dystopischen Science-Fiction-Roman, der aktuelle Probleme
unerbittlich extrapoliert. Dass zunehmend vieles im Argen liegt, streut
Bastian in seine Erzählung immer wieder ein; deutlich wird zugleich, wie
wenig ihn dies berührt. Die Siedlung in der Nähe von München, in die er
zieht, entwickelt sich zu einer von Drohnen und Security bewachten Gated
Community, wo sich die Klimakatastrophe, neue Seuchen sowie eine politische
und soziale Polarisierung, die zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führt,
wider besseres Wissen lange ignorieren lassen.
## Kunst der Verdrängung
Der unbedingte Wunsch, dass trotz aller Bedrohungen, „alles genauso so
blieb, wie es war“, begreift Bastian nicht nur für sich selbst als
elementar: „So deprimierend und beunruhigend all die Zwischenfälle und
mittelgroßen Katastrophen waren, die sich damals in immer kürzeren
Intervallen ereigneten, so dachten wir dennoch unbeirrt weiter, es handele
sich lediglich um weitere Krisen in einer Epoche der Krisen. Danach würde
es jedoch unaufhaltsam aufwärtsgehen, was auch immer aufwärts bedeutete.
Was hatten wir nicht schon alles überstanden, wobei,wir' nicht einmal
Brigitte und ich oder Deutschland, sondern die Menschheit bedeutete.“
Mit dieser Verdrängung verbunden ist, dass Bastian ein Leben aus zweiter
Hand führt. Seine Wahrnehmung ist stark medial vermittelt, sodass er sich
immer wieder, gerade in dramatischen Momenten, an Film- und Fernsehszenen
erinnert fühlt und den Eindruck hat, er agiere und spreche in einer
Fiktion. Hieraus erklärt sich auch sein nicht nur berufliches Interesse an
immer ausgefeilteren Virtual-Reality-Konzepten: In einer schweren
existenziellen Krise lässt er sich alte Videoaufnahmen in VR umwandeln,
sodass er durch seine Vergangenheit spazieren kann, als sei sie die
Gegenwart.
Steinaecker bricht über seine Hauptfigur nicht den Stab. Er belässt sie in
ihrer Widersprüchlichkeit. Bastian ist ein nur bedingt zuverlässiger, doch
nicht unsympathischer Icherzähler. Sein Verhalten ist oft nachvollziehbar:
Es fügt sich halt eins ins andere, wie es im Leben so ist.
Daher rührt das Erschrecken, das man bei der Lektüre empfinden kann: Es
ist, als blicke man in einen Spiegel – und vielleicht hält der Autor, den
biografisch manches mit Bastian verbindet, sich in ihm auch selbst einen
Spiegel vor. Bastian ist ein schuldlos Schuldiger – wie wir alle. Romane,
die eine Zeitdiagnose stellen, sind oft verkappte Leitartikel; in „Die
Privilegierten“ aber hat Thomas von Steinaecker unsere Gegenwart auf genuin
literarische Weise durchschaut und erfasst.
22 Oct 2023
## LINKS
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[2] /Biographischer-Comic-ueber-Stockhausen/!5887030
## AUTOREN
Christoph Haas
## TAGS
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