# taz.de -- Levin Westermann „Zugunruhe“: Neben dem Fuchs liegen | |
> In seinem neuen Buch „Zugunruhe“ möchte Levin Westermann die Landschaft | |
> und die Tiere begreifen und sehnt das Verschwinden der Menschheit herbei. | |
Bild: Der Begriff „Zugunruhe“ beschreibt die Nervosität von Zugvögeln, be… | |
Wenn Levin Westermann die Augen schließt, kann er den toten Fuchs sehen. | |
Vor Jahren hatte er ihn bei einem Spaziergang unter einem Baum gefunden, | |
ein großes Tier, zwei lange dunkle Regenwürmer waren über sein Fell | |
gekrochen, „glänzend und feucht auf rotem Grund“. | |
Westermann hatte sich nicht gefürchtet oder geekelt, er hatte stattdessen | |
plötzlich den starken Wunsch verspürt, sich danebenzulegen, „um so zum Teil | |
der Landschaft zu werden, denn ich hatte wie noch nie zuvor verstanden, | |
dass meine Präsenz nicht nötig war auf Erden, dass die Autos fahren und die | |
Bäume wachsen und die Würmer kriechen würden, ganz ohne mich“. | |
Der Autor erzählt hier nicht allein von sich selbst, sondern möchte sich | |
auch stellvertretend für seine Gattung zum Fuchs legen. Gar nicht heimlich | |
sehnt er das Verschwinden der Menschheit herbei, zeigt sich fasziniert von | |
Geschichten über Wolfsrudel [1][in den Wäldern von Tschernobyl], von | |
Eisbären, die eine verlassene Wetterstation in der Arktis bewohnen, von | |
einem kleinen Roboter, der auf dem Mars durch ein ausgetrocknetes Flussbett | |
rollt. | |
[2][Westermann, man weiß das schon aus früheren Büchern,] argumentiert sehr | |
vehement für Natur- und Tierschutz, er gehört aber wohl nicht zu jenen, die | |
sich für „die Zukunft“ einsetzen, jedenfalls nicht für eine des Menschen. | |
So freundlich sich der 1980 in Meerbusch geborene Schriftsteller mit | |
gelegentlich in seinem Buch auftauchenden Freunden auseinandersetzt, so | |
offenbar ist doch, dass sein moralisches Interesse anderen Lebewesen gilt. | |
## Schneckenanatomie und radioaktive Kühe | |
Die Anatomie der Schnecken fasziniert ihn, das Schicksal radioaktiv | |
kontaminierter Kühe weckt sein Mitleid, Experimente mit Ratten und Affen | |
machen ihn wütend und traurig. Seine Fantasien über eine Erde ohne Homo | |
sapiens erinnern hingegen an die Beruhigung, die manche depressiven | |
Personen verspüren, wenn sie sich ihren eigenen Tod vorstellen. | |
„Zugunruhe“ heißt Westermanns Buch, das der Verlag einen Roman nennt, das | |
man aber auch als Sammlung autofiktionaler Essays bezeichnen darf. Der | |
Begriff [3][beschreibt die Nervosität von Zugvögeln, bevor sie aufbrechen]. | |
Auch der Erzähler ist viel unterwegs. Mit der Bahn fährt er durch | |
Deutschland und die Schweiz, geht spazieren, erkundet Naturparks. Immer | |
wieder versucht er sich an einer Auftragsarbeit über „die Landschaft“, die | |
ihn überfordert, sei das Thema doch zu groß, um etwas Substanzielles | |
beizutragen. | |
Eines Tages dann schickt er sein Material, eine beträchtliche Textsammlung, | |
an eine Freundin, die ihm in Sekunden den Grund für sein Scheitern vor | |
Augen hält: Er war so dumm, der Ratio zu vertrauen. All die philosophischen | |
Definitionen und das Graben nach Bedeutung haben ihn immer nur noch weiter | |
von der Landschaft weggetrieben. | |
„Wer benennt, der beherrscht und bestimmt, und je weiter wir uns vom | |
Urknall entfernt hatten, desto stärker war das Feld geworden, das das Leben | |
verzerrte und entstellte: die Schwerkraft des menschlichen Verstands.“ | |
Westermann, der von der Lyrik kommt, ist eine doppelt tragische Figur: | |
nicht nur weil er ein Mensch ist, der seine Gattung vor allem als Problem | |
erkennt; sondern auch, weil er ein Schriftsteller ist, der mit einer | |
Sprache arbeiten muss, die das Leben, den Boden, den Wald und den Berg nur | |
verlegen auf irgendeinen Begriff bringt, anstatt ihn wirklich begreifen zu | |
können. | |
## Zeitreisen nicht möglich | |
Am eindrücklichsten ist sein Buch denn auch, wenn er die Überforderung | |
seines Geistes schildert, etwa den Schwindel bei dem Gedanken, dass sich | |
eine Umgebung, die er betrachtet, über viele Millionen Jahre geformt hat. | |
Oder die Verzweiflung, die ihn am Hafen von Lissabon wegen der Tatsache | |
übermannt, dass er niemals die Schiffe von Vasco da Gama sehen wird, dass | |
man zwar durch den Raum, nicht aber in die Vergangenheit reisen kann. | |
Und ja, das ist nicht der schlechteste Grund für spontane Traurigkeit. | |
Westermann, der sicher zu den sensibelsten Exemplaren seiner Gattung | |
gehört, übergäbe man die Macht über die Dimension Zeit im Übrigen ohne | |
Zögern. Er würde nichts Schlechtes damit anstellen. | |
13 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Michael Wolf | |
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