# taz.de -- Sperrzonen-Chef über Tschernobyl: „Russen haben die Zone vermint… | |
> 38 Jahre nach dem GAU ist die Gegend um Tschernobyl immer noch | |
> verstrahlt. Durch den Angriffskrieg drohen neue Gefahren, warnt | |
> Sperrzonen-Chef Andrij Tymtschuk. | |
Bild: 38 Jahre Tschernobyl-Gau: Über dem alten Sarkophag wurde von 2010 bis 20… | |
taz: Am 26. April 1986 explodierte Reaktor 4 des nach Lenin benannten | |
Atomkraftwerks bei Tschernobyl. Sie sind Vizechef der staatlichen Agentur, | |
die die Sperrzone um das zerstörte Kraftwerk managt. Wie ist die Lage | |
heute? | |
Andrij Tymtschuk: Die gefährlichste Strahlung, die 1986 freigesetzt wurde, | |
ist heute abgebaut, Spaltelemente des Cäsiums haben beispielsweise eine | |
Halbwertszeit von 30 Jahren. Dennoch ist ein Gelände mit einem Radius von | |
30 Kilometern um das Kraftwerk [1][noch viele hunderte Jahre für den | |
Menschen unbewohnbar]. Deshalb gelten auch spezielle Gesetze und Regeln in | |
dieser Zone. | |
Trotzdem arbeiten immer noch tausende Menschen in diesem Sperrgebiet. | |
Warum? | |
Weil wir sie brauchen. [2][Es gibt insgesamt zehn staatliche Unternehmen, | |
die aktuell 4.800 Menschen in der Zone beschäftigen.] Mit 2.500 | |
Mitarbeitern ist die Firma der größte Arbeitgeber, die sich dem Rückbau des | |
Kraftwerks widmet – aktuell der Blöcke 1 bis 3. Zweitgrößter ist eine | |
Firma, die sich um die Zwischenlagerung der radioaktiven Abfälle kümmert. | |
Drittens gibt es Radon-Enterprice, ein Staatsunternehmen, das Technik und | |
Know-how für radioaktive Unfälle in der Ukraine und darüber hinaus | |
bereithält. | |
Eine Art Feuerwehr für Atomunfälle? | |
Das könnte man so sagen! Die Firma Ecocenter Enterprice entwickelt zum | |
Beispiel Verfahren zur Analyse von Radioaktivität und kontrolliert diese im | |
ganzen Land. Kurz gesagt: Wir haben in der Zone um Tschernobyl ein atomares | |
Kompetenzzentrum geschaffen. | |
Bei ihrem Überfall auf die Ukraine sind russische Truppen ausgerechnet | |
durch diese Zone auf Kyjiw vorgerückt. | |
Das stimmt, der Angriff von belarussischem Staatsgebiet aus sollte wohl | |
einen besonderen Überraschungsmoment kreieren. | |
Was wurde in ihrem Kompetenzzentrum zerstört? | |
So ziemlich alles: Straßen, Gebäude, Spezialfahrzeuge, Server, Computer, | |
Dosimeter – die Liste ist lang. Unseren Erhebungen zufolge belaufen sich | |
die Schäden auf mehr als 100 Millionen Euro. Der einschneidendste Verlust | |
war aber die Bahnstrecke von Tschernobyl nach Slawutytsch. | |
Das ist jene Stadt, in der viele der Arbeiter von Tschernobyl wohnen. Was | |
sind die Konsequenzen? | |
Slawutytsch wurde nach dem Reaktorunglück auf einem unverstrahlten Flecken | |
Erde gebaut, per Zug war man in 30 Minuten im Kraftwerk. Allerdings ging | |
die Strecke über belarussisches Staatsgebiet. Jetzt nach dem Überfall und | |
der Zerstörung müssen unsere Leute außen herum fahren, und das dauert 7 | |
Stunden – eine Strecke wohlgemerkt! Deshalb haben wir in der Stadt | |
Tschernobyl einige alte Häuser renoviert und Unterkünfte geschaffen. Die | |
Mitarbeiter wohnen und arbeiten da jetzt ein paar Tage, bevor es wieder | |
nach Hause geht. | |
Die Russen haben mit ihren Panzern die Erde umgepflügt und Stellungen | |
gegraben. Wie viel der im Boden gebundenen Radioaktivität wurde dabei frei? | |
Erhebliche Mengen, wie unsere Messungen ergeben haben. Zwar ist einiges | |
davon mittlerweile durch Wind und Wetter weitergetragen und in der Umwelt | |
verdünnt worden. Wir haben aber spezielle Kontrollen eingeführt und halten | |
ein Dekontaminierungsprogramm bereit für den Fall, dass ein Fahrzeug oder | |
ein Waldstück zu hohe Strahlungswerte aufweist. Ein anderes Problem macht | |
uns mehr zu schaffen: Die Russen haben Teile der Zone vermint, auch | |
Blindgänger liegen überall rum. Diese Gefahr sicher zu bannen wird eine | |
größere Herausforderung werden. | |
Ihr Job ist es, die [3][Sonderwirtschaftszone] nicht nur zu verwalten, | |
sondern auch zu entwickeln. Was sind die wichtigsten Aufgaben, die | |
anstehen? | |
Natürlich der Rückbau des havarierten Reaktors 4. Über dem sorgt seit 2019 | |
eine neue Hülle dafür, dass die Radioaktivität nicht in die Umwelt gelangen | |
kann. Aber so kann die Ruine natürlich nicht bleiben: Wir wollen in den | |
nächsten zwei Jahren ein Verfahren entwickeln, wie wir sie zerlegen und | |
entsorgen können, um dann 2030 den Reaktor samt Gebäude in seine | |
Einzelteile aufgelöst zu haben. | |
Es gibt auch Pläne für große Solar- und Windparks im Sperrgebiet. | |
Mehrere gleich! Einige davon sind bereits sehr weit fortgeschritten, | |
[4][die deutsche Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat uns im | |
vergangenen Jahr beispielsweise die deutsche Firma Notus als Partner für | |
1.000 Megawatt Windleistung vermittelt]. Solche Projekte sind ungemein | |
wichtig, weil die Russen die Hälfte aller Kraftwerke in unserem Land | |
zerstört haben und wir spätestens im kommenden Winter nicht mehr genug | |
Energie erzeugen können. Andererseits sind solche Vorhaben jedoch schwer zu | |
realisieren, solange die Russen uns beschießen. Natürlich sind wir dankbar | |
für solche Partnerschaften. Bevor die zum Tragen kommen, brauchen wir aber | |
zunächst einmal Waffen, um dem Spuk ein Ende zu bereiten! | |
26 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Nick Reimer | |
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