# taz.de -- Luftbild-Auswerter über Blindgänger: „Die Welt sauberer machen�… | |
> Schleswig-Holsteins Kampfmittelräumdienst sucht ZeitzeugInnen und Fotos, | |
> die Aufschluss über Blindgänger im Zweiten Weltkrieg geben können. | |
Bild: Narbe im Boden: Krater einer kontrolliert gesprengten US-Fliegerbombe aus… | |
taz: Herr Bock, warum sucht der Kampfmittelräumdienst jetzt erstmals | |
Zeitzeugen zu Blindgängern des Zweiten Weltkriegs? | |
Alan Bock: Weil wir im Zuge der Digitalisierung die Qualität unser | |
Informationen verbessern und den Umfang der vorhandenen historischen | |
Dokumente erweitern wollen. Wir möchten die Kampfmittelbelastung im Land | |
bestmöglich erfassen. Am Ende möchten wir auf der digitalen Karte das | |
heutige Grundstück anklicken können und alle Informationen über sein | |
„Schicksal“ während des Zweiten Weltkriegs sehen. Dafür erhoffen wir uns | |
Informationen wie Privatfotos, Zeitzeugenberichte, Karten, Informationen | |
über Bombenabwürfe und Blindgänger sowie vieles weitere auch in Stadt-, | |
Kreis- und Kirchenarchiven. Diese wertvollen historischen Quellen sind noch | |
längst nicht erfasst. | |
Mit welchem Material arbeiten Sie bislang? | |
Wir werten Kriegsluftbilder der britischen und US-amerikanischen | |
[1][Alliierten] aus. Außerdem sichten wir alliierte Angriffsdaten und | |
Angriffschroniken, sodass wir genau sagen können, wann welche Bombenlast | |
auf welches Gebiet geworfen wurde. | |
Weiß man, wie viele Bomben auf Schleswig-Holstein fielen? | |
Aus Listen der Alliierten geht hervor, dass auf Schleswig-Holstein 45.000 | |
Tonnen fielen, 29.000 davon auf [2][Kiel]. Insgesamt existieren 126.000 | |
Kriegsluftbilder, von denen der Kampfmittelräumdienst 97.000 hat. Die | |
fehlenden könnten wir unter anderem bei der britischen Krone kaufen, aber | |
angesichts der Haushaltslage fehlt dafür das Geld. | |
Sie müssen die Bilder wirklich kaufen? | |
Inzwischen ja. Ende der 1980er-Jahre durften sich die deutschen | |
Bundesländer die Bilder im Zuge eines bilateralen Vertrags für fünf Jahre | |
von den Briten ausleihen und selbst projizieren bzw. kopieren. Dann gingen | |
die Fotos wieder zurück, und was damals im Rahmen der Leihfrist nicht | |
eingearbeitet werden konnte, müssen wir seither einzeln kaufen, für 100 bis | |
120 Euro pro Foto. | |
Wie entstanden diese Fotos? | |
Man muss sich das so vorstellen: Am Montag sind die Briten hergeflogen und | |
haben Luftbilder potenzieller Ziele gemacht. Am Dienstag haben sie die | |
Bomben abgeworfen. Am Mittwoch sind sie nochmal wiedergekommen, um das | |
Ergebnis zu fotografieren und zu dokumentieren. Entstanden sind Bilder aus | |
ca. 6.000 Metern Höhe. Hinter unserem Zeitzeugen-Aufruf steckt auch die | |
Idee, Nahaufnahmen der Zerstörungen am Boden zu bekommen. | |
Waren auch in Schleswig-Holstein die Städte am stärksten betroffen? | |
Betroffen waren Regionen mit starker Rüstungsindustrie – natürlich der | |
[3][Marinestützpunkt Kiel], aber auch die Ölraffinerie in Hemmingstedt an | |
der Westküste und die kriegswichtige Bahntrasse in Neumünster. | |
Wie viele Blindgänger vermuten Sie noch in Schleswig-Holstein? | |
Schwer zu sagen. Von den rund 1.100 schleswig-holsteinischen Gemeinden sind | |
90 laut Kampfmittelverordnung als antragspflichtig ausgewiesen. Das heißt, | |
wenn Sie dort bauen wollen, müssen Sie bei uns, dem Kampfmittelräumdienst, | |
anfragen, damit wir die entsprechenden Luftbilder überprüfen. | |
Wurden die wichtigsten Städte nach 1945 systematisch abgesucht? | |
Nein. Sie konnten bauen, wo Sie wollten. Es gab lediglich die Empfehlung, | |
das Gebiet auf Blindgänger prüfen zu lassen. Die Verpflichtung für besagte | |
90 Gemeinden, den Räumdienst anzufragen, besteht seit 2012. | |
Wie viel Prozent Blindgänger gibt es generell? | |
Es sind im Schnitt zehn bis 15 Prozent, die nicht explodiert sind und noch | |
im Boden liegen. Zurzeit finden wir in Schleswig-Holstein ein, zwei Stück | |
pro Monat. Mit der Räumung werden wir aber wohl noch Jahrzehnte beschäftigt | |
sein. | |
In welchen Regionen liegen die meisten? | |
Das hält sich zwischen Stadt und Land die Waage. Derzeit kommen wegen des | |
Breitband-Ausbaus an der Westküste zum Beispiel viele Anfragen aus dem | |
ländlichen Bereich. | |
Und was könnten die nun erhofften Privatfotos zeigen? | |
Schäden an Haus und Hof zum Beispiel. Im Zweiten Weltkrieg gab es ein | |
Kriegsschadensamt, dem gegenüber man den Schaden dokumentieren konnte, um | |
Kompensation zu bekommen. Solche Bilder wurden von offiziellen Fotografen | |
des NS-Regimes gemacht, aber auch von Privatleuten. Wir erhoffen uns | |
darüber hinaus Informationen über versprengte oder vergrabene Munition, | |
Absturzstellen oder detonierte und blindgegangene Bomben. Vielleicht weiß | |
jemand: Hier ist ein Flieger abgeschossen worden. Auch das möchten wir | |
dokumentieren. | |
Haben Sie schon Erfahrungen mit Zeitzeugenberichten? | |
Ja. Oft rufen gerade nach Bombenentschärfungen Zeitzeugen an, um auf | |
weitere mögliche Blindgänger hinzuweisen. Bei älteren Menschen, die den | |
Krieg noch erlebt haben, kommen solche Erinnerungen oft wieder hoch, wenn | |
sie von einer Bombenentschärfung erfahren. | |
Wie gehen Sie dann vor? | |
Wir treffen uns vor Ort mit der Person, hören zu, schreiben mit und | |
versuchen die Angaben mit unseren Unterlagen abzugleichen: Gab es einen | |
Angriff an diesem Tag, gibt es Luftbilder? Dann gehen wir, wenn möglich, | |
mit dem Zeitzeugen an den betreffenden Ort. Manchmal haben sie recht, | |
manchmal nicht. Da hat man sich zum Beispiel in der Koppel geirrt. Oder | |
derjenige meint mit Blindgänger nicht, wie wir, eine Fliegerbombe, sondern | |
eine Kanonenkugel oder eine Patrone. Aber auch das räumen wir natürlich | |
weg, wenn wir es finden. | |
Sie sind seit 25 Jahren Kriegsluftbild-Auswerter. Ist das nicht belastend? | |
Natürlich sieht man auf diesen Bildern jeden Tag das Unheil des Zweiten | |
Weltkriegs. Aus 6.000 Metern Höhe erkennt man allerdings keine Menschen, | |
keine Verletzten oder Toten, sondern „nur“ die großen Bombenkrater. | |
Außerdem ist diese Arbeit sinnstiftend: Wenn man draußen vor Ort einen | |
Blindgänger geortet, den Sondiertrupp geholt und die [4][Entschärfung | |
v]eranlasst hat: Dann ist das ein toller Erfolg, und man denkt: Wir tun | |
irgendwie etwas Gutes. Wir versuchen die Welt etwas sauberer zu machen. | |
11 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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