# taz.de -- Wie Zugvögel neue Routen lernen: Lieber ins nahe England ziehen | |
> Das Wilhelmshavener Institut für Vogelforschung ergründet den Wandel von | |
> Routen und Zielen der Zugvögel. Bei einigen Arten wird das Wissen | |
> vererbt. | |
Bild: Poetische Schattenrisse am Himmel: Kraniche auf dem Flug gen Süden | |
HAMBURG taz | Woher Jungvögel wissen, wohin sie im Winter ziehen müssen? | |
Ganz einfach: Die Eltern zeigen ihnen den Weg. Das könnte man meinen, aber | |
für die meisten [1][Singvögel] gilt das nicht: Sie ziehen nachts und | |
einzeln gen Süden, die Eltern schon Wochen vor den Jungen, und der | |
Nachwuchs findet das Winterquartier trotzdem. | |
Herausgefunden haben das ForscherInnen des [2][Wilhelmshavener Instituts | |
für Vogelforschung] – auf mühsame, aber effektive Weise: Statt „schwerer�… | |
GPS-Logger, die man etwa Störchen auf den Rücken schnallt, um ihre Route | |
quasi live über Satellit zu verfolgen, versieht man Singvögel mit winzigen | |
Geolokatoren. | |
„Das sind kleine Rucksäcke, die wie Fahrtenschreiber funktionieren. Sie | |
haben Lichtsensoren, um Tag und Nacht zu unterscheiden, dazu eine Art | |
Stoppuhr und eine Datenplatine, die alles aufzeichnet“, sagt Miriam | |
Liedvogel, Direktorin des Instituts. „Die Geräte wiegen weniger als ein | |
halbes Gramm und beeinträchtigen die Vögel nicht.“ | |
Aber man kann die Route eben nur im Nachhinein rekonstruieren und muss | |
genau denselben Vogel nach seiner Rückkehr wiederfinden, das Gerät abnehmen | |
und die Daten auslesen. „25 Prozent der Lokatoren kommen zurück – „für … | |
kurzlebigen Singvögel eine sehr gute Quote“, sagt Liedvogel. | |
## Neu erworbenes Wissen wird vererbt | |
Was die Daten offenbaren: Auch nicht alle Vögel einer Art – etwa der | |
Mönchsgrasmücke – wählen im Herbst dieselbe Route: Je nachdem, wo sie | |
brüten, umfliegen einige Alpen, Mittelmeer und Sahara östlich oder | |
südwestlich. Erstaunlich außerdem: Ein Teil der Mönchsgrasmücken | |
überwintert seit einigen Jahren in Großbritannien. | |
„Das liegt einerseits an den wegen des Golfstroms milden Wintern und den | |
global wärmeren Temperaturen, andererseits daran, dass in fast allen | |
britischen Gärten Vogelfutterstationen hängen“, sagt Liedvogel. „Die Vög… | |
haben also einen kürzeren Zugweg und eine sichere Nahrungsquelle.“ | |
Auch dieses neu erworbene Wissen gäben die Eltern über Vererbung weiter. | |
Der Beweis: Vögel, die die Wilhelmshavener ForscherInnen getrennt von den | |
Eltern aufwachsen ließen, suchten stets das Winterquartier ihrer Eltern | |
auf. | |
Und selbst im „Kontrollversuch“ in der Institutsvoliere zeigten die Vögel | |
nicht nur zur selben Zeit „Zugunruhe“ wie ihre frei lebenden Artgenossen, | |
sondern hopsten in eigens konzipierten Mini-Arenen in die Richtung, in die | |
sie ziehen würden, wenn sie könnten. Ob das nicht belastend ist für die | |
Vögel? „Die Tiere werden nach dem Experiment wieder freigelassen“, sagt | |
Liedvogel. | |
## Breit gefächerte Forschung | |
Begonnen hat das alles vor gut 100 Jahren: 1910 wurde auf Helgoland – dem | |
deutschlandweit einzigartigen Rastplatz Tausender [3][Zugvögel] – eine | |
[4][Vogelwarte] gegründet, auf der man Vögel beringte, ihr Zugverhalten | |
beobachtete und notierte. Während des Zweiten Weltkriegs wurde das | |
Institut, wie zeitweilig die ganze Insel – evakuiert, weil die Alliierten | |
Helgolands vom NS-Regime hochgerüstete Militäranlagen beschossen. | |
1947 zog der Hauptsitz des Instituts nach Wilhelmshaven; die Zweigstelle | |
Helgoland startete 1953 wieder. Heute ist das Institut eine | |
außeruniversitäre Forschungseinrichtung, die gemeinsam mit der Universität | |
Oldenburg den Studiengang „Master in Biology with a focus on Ornithology“ | |
anbietet. | |
„Aufgrund unser breit gefächerten Forschung, die besonders das | |
Zusammenwirken von Umwelt und Vererbung fokussiert, sind wir auch innerhalb | |
Europas einzigartig“, sagt Miriam Liedvogel. Und natürlich sei Helgoland, | |
das wichtige Daten zuliefere, „ein Traum für jeden Zugvogelforscher, weil | |
man dort auf begrenztem Gebiet beobachten kann, wie sich das | |
Vogelzuggeschehen im Jahresverlauf, aber auch übe die Jahre hinweg | |
verändert“. | |
Manche Vögel, wie die Mönchsgrasmücke, kämen heute zwei, drei Wochen früher | |
aus dem Winterquartier zurück als vor 100 Jahren, könne so die besten | |
Brutplätze belegen, vielleicht mehr Nachwuchs aufziehen. Langstreckenzieher | |
wie der Steinschmätzer dagegen, die von Sibirien bis Südafrika zögen, | |
hätten wenig zeitliche Puffer, müssten rechtzeitig im Norden ankommen, | |
Junge aufziehen und vorm Winter wieder abfliegen. Sie könnten sich dem | |
[5][Klimawandel] schlecht anpassen, sagt Liedvogel. Vielleicht werden sie | |
zu dessen Verlierern gehören. | |
18 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Vogelschutz-am-BER/!5870568 | |
[2] https://ifv-vogelwarte.de/institut | |
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[4] /Die-Weissstoerche-sind-wieder-da/!5675149 | |
[5] /Wie-der-Klimawandel-die-Natur-veraendert/!5531829 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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