# taz.de -- Vollautomatische Vogelbeobachtung: Den Piepmatz im Visier | |
> Voller Technik schippert der ehemalige Schlepper „Zoë X“ durch den | |
> Hamburger Hafen. Seine Mission: Vögel beobachten und ihr Verhalten zu | |
> übermitteln. | |
Bild: Birdwatching zur See: Die „Zoë X“ nimmt Hamburgs fliegende Tierwel… | |
HAMBURG taz | Das Schiff im Hamburger Hafen ist kaum größer als drei Autos | |
und frisch lackiert: glänzend schwarz. Am Bug ist seltsame Technik zu | |
sehen, die man schwer zuordnen kann. Eine Kamera lässt sich immerhin | |
erahnen, in einem Plexiglaskasten vor Wasser geschützt. Hinten am Heck | |
steht eine riesige Tafel, ganz ähnlich den Anzeigen am Flughafen. Und | |
tatsächlich geht es hier an der Elbe auch um Flugverkehr, wenn auch nicht | |
um motorisierten. | |
Das kleine [1][Forschungsschiff heißt „Zoë X“] und liegt hier wegen der | |
Vögel vor Anker. Und um die geht es dann auch auf der Laufschrift. „Mit | |
gemächlichen Flügelschlag segelt ein Piepmatz gen Altona“, ist etwa einer | |
von rund 4,2 Milliarden möglichen Sprüchen, die man dort lesen kann. Die | |
Sätze sind das Produkt des Kunst- und Forschungsprojektes „FIDS Open | |
Research Lab“ des Fotografen und Künstlers Claudius Schulze. | |
„Kunst- und Forschungsprojekt“ klingt zunächst ungewöhnlich, aber | |
tatsächlich bewegt sich das Projekt „an der Schnittstelle von Kunst und | |
Wissenschaft“, wie der gebürtige Münchener sagt. Er gibt eben eine | |
künstlerische Antwort auf die biologische Forschungsfrage: Wie Verhalten | |
sich die Vögel in unserer Umgebung? | |
Auch die Werkzeug scheinen zunächst eher der wissenschaftlichen Sphäre zu | |
entspringen: Mit der Hilfe von hochauflösenden Kameras und moderner | |
Sensortechnik untersuchen Schulze und sein Team das Verhalten von Zugvögeln | |
im Hamburger Hafen. „Die Ergebnisse der Untersuchungen werden in | |
verständliche Sprache umgewandelt und auf die Anzeigentafel projiziert“, | |
erklärt Schulze. | |
## Wie eine Art Schall- oder Radarmessung | |
Die „Zoë X“ und ihre Textbotschaften sind das Herz des Projekts, auch wenn | |
es gelegentlich von Fotoausstellungen begleitet wird. Das Schiff ist an | |
verschiedenen Orten im Einsatz und liegt nur vorübergehend hier am Anleger | |
im Veringkanal. Das ehemalige Schleppschiff beherbergt heute einen kleinen | |
Technologiepark: neben den Kameras noch Sensoren, Solaranlagen und die | |
Anzeigetafel. | |
Die Funktionsweise der Aufnahmetechnik lässt sich in etwa mit einer Schall- | |
oder Radarmessung vergleichen. Durch Laserreflexion nimmt eine Kamera die | |
Oberflächenbeschaffenheit von Vögeln auf, die in ihrem Radar fliegen. | |
Genaugenommen nimmt sie nicht nur Vögel, sondern so ziemlich alles auf, das | |
ihr ins Visier segelt: zum Beispiel auch Drohnen privater Hobbyflieger oder | |
der Hafenüberwachung. | |
Die Technik auf dem Bug verzeichnet alles mögliche: Flugart und -richtung, | |
variierende Geschwindigkeit, ja sogar die verschiedenen Laute der Tiere. | |
Dabei können die Sensoren sogar Objekte einfangen, die für das menschliche | |
Auge gar nicht erst sichtbar sind, bis in die Höhe von etwa 200 Meter über | |
dem Schiff. | |
Die gesammelten Informationen werden dann ausgewertet und schließlich in | |
Computersprache umgewandelt. „Komplizierter Programmierkram“, meint Schulze | |
nur, die er vor allem dem IT- und Softwareentwickler Jonathan Kossick | |
verdankt. | |
## Fliehende Fischbrötchen | |
Sieht man also am Himmel eine diebische Möwe mit einem soeben erbeuteten | |
Fischbrötchen im Maul über der „Zoë X“ fliegen, ist es ziemlich | |
wahrscheinlich, dass die Anzeigetafel kurze Zeit später mehr Auskunft über | |
diesen Räuber geben kann. Wohin wird die Beute verschleppt? Wie schnell | |
flieht der Dieb? Wie viele Flügelschläge pro Minute braucht die Möwe mit | |
ihrer extra schweren Fracht? | |
Nur werden diese Daten allerdings nicht einfach so ausgegeben. Kossicks | |
Programm interpretiert die verschiedenen Eigenschaften auch und ordnet sie | |
bestimmten Attributen zu. Wenn also eine kleine Kohlmeise verhältnismäßig | |
langsam über das Schiff fliegt, könnte sich der Spruch etwa so lesen: „Mit | |
gemächlichem Flügelschlag gleitet ein Piepmatz über Wilhelmsburg“. Wenn ein | |
Vogel etwas schneller fliegt, könnte der Spruch auch wie folgt beginnen: | |
„hektisch segelt ein Vogel …“ – so will Schulze die Besucher*innen für | |
das unterschiedliche Verhalten der Tiere sensibilisieren. | |
Das Schiff bleibt nicht durchgehend am Ufer. Bei typischem Hamburger | |
Schmuddelwetter fahren wir auf dem alten Schlepper kreuz und quer durch den | |
Hafen. Seinen Bootsführerschein hat Schulze übrigens nicht für diese Arbeit | |
gemacht, sondern früher mal für ein Hausbootprojekt. Zwischen riesigen | |
Containerschiffen und idyllischen Hausbootlandschaften erzählt Schulze | |
euphorisch von den Hintergründen seines Projektes und von früheren | |
künstlerischen Aktionen. | |
„Ich denke, mit die größten Krisen unserer Generation sind die Klimakrise | |
und das Artensterben“, sagt er, „ausgelöst durch menschengemachte | |
Technologie“. Darum habe er seine künstlerische Arbeit den Auswirkungen | |
dieser Krisen und ihrer Dokumentation gewidmet. Mit technischen Mitteln | |
will er besseres Verständnis für die oft problematische Rolle des Menschen | |
in der Natur schaffen. | |
In vorherigen Projekten hat der 38-Jährige unter anderem durch | |
Landschaftsfotografie die Veränderungen der Natur eingefangen und in | |
Ausstellungen dargestellt. Der Hamburger Hafen sei für ihn ein Sinnbild und | |
extremer Ausdruck der Veränderung natürlicher Lebensräume durch unsere | |
Technologie. Tatsächlich wirkt es schon auf den ersten Blick paradox, wie | |
die Form des Gewässers – die Skyline des Hafens – von riesigen Kränen, | |
mächtigen Gebäuden, kleinen oder größeren Werften und Containerschiffen | |
gezeichnet wird. | |
Zeitgleich sieht man vom Wasser aus längere Grünstreifen und wunderschöne | |
Natur. Gerade diese Kombination aus Natur und urbanem Raum erkläre die | |
Artenvielfalt von Vögeln in der Hafenregion, sagt Schulze. Und das könne | |
auch verallgemeinert werden: „In städtischen Regionen gibt es heute eine | |
viel größere Artenvielfalt als auf dem Land“, sagt er. | |
## Landschaft von Menschenhand | |
Man könne zwar meinen, die fortschreitende Urbanisierung sorge vor allem | |
für Verschmutzung durch Licht, Lärm und städtischen Müll – aber durch die | |
vielen verschiedenen Nischen, Verstecke, Bunker oder Parkanlagen „bieten | |
Städte heute [2][einen vielseitigen Lebensraum] für alle möglichen | |
Tierarten“, so Schulze. | |
Aber so gut das auch klingen mag: Die Stadt ist gleichzeitig ein hartes | |
Pflaster für alle Tiere und ganz besonders für fliegende. Jährlich verenden | |
über 100 Millionen Tiere, „weil sie gegen Fensterscheiben fliegen“, wie der | |
deutsche Naturschutzbund (Nabu) mitteilt. [3][Die Lichtverschmutzung] im | |
Hafen sei auch eine „potenzielle Gefahrenquelle für wandernde Zugvögel“, … | |
Schulze. | |
Im Führerraum des Schiffes steht ein Konservenglas mit hochprozentigem | |
Alkohol, in ihm eingelegt eine kleine Meise mit gelbem Kehlkopf. „Gut | |
erhalten wie dieser“ seien viele verendete Vögel, sagt der Kapitän. Man | |
sehe ihnen kaum an, gestorben zu sein. Und das alles nur, weil sie gegen | |
Scheiben fliegen oder sich in ein Gebäude verirren, aus dem sie nicht mehr | |
herausfinden. | |
Claudius Schulze will mit seinem Projekt die Öffentlichkeit ansprechen und | |
„zu einem besseren Verständnis über die Rolle des Menschen in der Natur“ | |
beitragen. Und das gehe „vielleicht am besten durch Technologie“, vermutet | |
er. Obwohl es doch vor allem um die negativen Folgen des technischen | |
Fortschritts geht. Mit FIDS habe er ein System erfunden, mit dem sich Vögel | |
im Hamburger Hafen automatisch überwachen lassen – das neben nackten Daten | |
aber auch in für Menschen nachvollziehbaren und nachfühlbaren Begriffen | |
über ihr Wohlbefinden spricht. | |
Aktuell liegt das Schiff noch bis Mitte Oktober in Hamburg. Danach geht es | |
aller Wahrscheinlichkeit, auf hoffentlich gemächlichem Wellengang gen | |
Mannheim. Eine der begleitenden Fotoausstellungen ist wieder ab dem 8. | |
Oktober beim [4][„Climate Art Fest“] in Hamburg zu sehen. | |
13 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://fids-openresearchlab.org | |
[2] /Biologische-Vielfalt/!5808838 | |
[3] /Volksinitiative-gegen-Werbetafeln/!5847047 | |
[4] https://www.artefakt-berlin.de/aktuelle-projekte/climateartfest/ | |
## AUTOREN | |
Emma Philipp | |
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