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# taz.de -- Zweiter Tag beim Bachmannpreis: Maskenspiele des Selberlebens
> Virtuell hin oder her: Die Autor*innen Helga Schubert, Hanna Herbst und
> Christian Leitner machten aus dem zweiten Vormittag etwas Besonderes.
Bild: Unter der Hand schönes Pathos: Helga Schubert eröffnete mit ihrer Lesun…
Der zweite Tag beim [1][Bachmannpreis] ging anders los als der erste,
nämlich ganz formidabel. Mit Helga Schubert, Jahrgang 1940. Sie las vor
Naturhintergrund, Bäume, Vogelgezwitscher, Sonne und Blattwerk. Schubert
war Psychologin war in der DDR und schreibt seit vielen Jahren
eindrückliche Texte, Geschichten, keine Romane, und mit keinen Romane wird
man nur sehr schwer wirklich berühmt, Geschichten vor allem über das Leben
von Frauen, auch Geschichten für Kinder, es ist allerdings schon lange kein
Buch mehr von ihr veröffentlicht worden.
[2][Helga Schubert], die schon 1980 nach Klagenfurt eingeladen war, aber
nicht ausreisen durfte, ist vor Ewigkeiten nach Mecklenburg gezogen,
umgeben vom Grünen.
Sie las einen Text, „Vorm Aufstehen“, der die achtzig Jahr umspannt, die
sie lebt, einen Text, der weit zurückgeht, nämlich bis zu ihrer Geburt, der
vom Tod ihrer Mutter erzählt, die keine gütige Frau war, ihr das Leben
einmal geschenkt hat und danach gleich dreimal, worauf sie am Ende doch
stolz war, nicht wieder nahm.
Die Erzählung ist von Gerüchen durchströmt, sie bewegt sich im Sprung durch
die Zeit, sie berichtet von einem schwer kranken Mann, von Hennahaaren und
Sartre-Lektüren, es ist ein Text mit einem sehr eigenen Ton, unprätentiös,
aber bewegend in der Art, in der er sich, immer weiter Geschehenes in
Erinnerung fassend, des Urteils enthält. Er hat ein schönes
existenzialistisches Pathos, aber nur sehr unter der Hand.
Es ist, daran besteht und bestand auch in der Jury, kein Zweifel, ein
autobiografischer Text. Womit Juror Philipp Tingler, der wohl mal ein
Proseminar in Literaturtheorie besucht hat, dem aber offenbar auch das Gute
im Leben zum eigenen Schaden ausschlägt, ein Problem hat, als einziger, das
formulierte er als eines der vielen von ihm formulierten Credos, die die
Welt und der Wettbewerb nicht braucht, schon weil er offenbar selbst nie
versteht, was er da sagt: Fiktion sei für ihn sakrosankt.
## Zum Glück gibts Kastberger
Zum Glück gab es Klaus Kastberger, der ihm das mit dem autobiografischen
Pakt und dem komplexen Maskenspiel [3][der besonderen Fiktion des besonders
Realen] beim Selberlebensbeschreiben freundlich, naja, oder auch nicht so
freundlich, erklärte.
Alle liebten Helga Schubert (sogar Tingler), alle (außer Tingler) liebten
den Text. Es ist sehr schwer, ihn nicht zu lieben, weil er bewegt, ich war,
wie ich auf Twitter sehen konnte, nicht der einzige, der geweint hat; es
ist aber auch sehr schwer, ihn nicht als autobiografische Literatur hoch zu
schätzen, weil er, seine Kunst weder ausstellend noch versteckend, sich
ohne Effekt zu etwas fügt, Satz für Satz, das in seiner Bewegung und seiner
Wirkung das Richtige ist.
Es wäre schon sehr verwunderlich, wenn Schubert mit „Vorm Aufstehen“ den
Bachmannpreis nicht gewinnt.
## Ein Song wie von Christiane Rösinger
Das Los meinte es nicht gut mit Hanna Herbst, fünfzig Jahre jünger als
Schubert, und erst am Beginn einer absehbar großen Karriere, obwohl sie
zumindest in Österreich schon einiges auf die Beine gestellt hat. Sie war
als nächste dran, zeigte sich auf Twitter ([4][@HHumorlos]) nach dem
Schubert-Zuhören in Echtzeit gerührt, Herz-Emoji, Tränen-Emoji, schrieb im
Scherz, nach so etwas könne sie ihren Text nur zurückziehen.
Sie las dann natürlich doch, in der von der zugeschalteten Live-Herbst
beobachteten Aufzeichnung, ihren eigenen Text „Es wird einmal“, der in den
Motiven, Erinnerung und Verlust, weniger im Umgang damit, dem von Schubert
noch dazu nicht ganz unähnlich war. Wer nach dem gekonnt komischen, sehr
[5][Christiane-Rösinger-haften] Selbstporträt-Song damit gerechnet hatte,
dass jetzt etwas Witziges, Leichtfüßiges kommt, sah sich getäuscht.
Dafür wurde es jedoch virtuos. „Poetry-Slam“ hieß es auf Twitter, nicht
durchweg freundlich gemeint, aber es gab allen Grund, es als großes Lob zu
verstehen. Eine Erzählung, sehr von heute, hellwach, die raffiniert mit
Erzählperspektiven hantiert, voller funkelnder Stellen, aus scharfen
Beobachtungen und Miniaturgeschichten gefügt, hoch originell im Detail,
vielleicht nur in der Summe auf die aus dem Effeff beherrschten Effekte
etwas zu sehr bedacht.
## Was die Autorin literarisch kann
Ein Text, der selbstbewusst zeigt, was seine Autorin auch literarisch kann,
und das ist offenkundig nicht wenig. Sie kann freilich auch komisch, das
ist eh klar, schließlich wird sie im Herbst die Chefin vom Dienst in Jan
Böhmermanns neuer Show. Es wurde noch klarer am Abend, als sie über Twitter
als Reaktion auf die Rezeption gleich einen weiteren Song lancierte, der
sich mit Seitenhieb auf Tinglers Thatcher-Hintergrund-Foto auf komische
Weise zur Ernsthaftigkeit des eigenen literarischen Tuns bekannte.
Die Jury mochte, zu Recht, auch diesen Text, beide, Schubert wie Herbst,
übrigens von Insa Wilke eingeladen, die sich bekannte, sie habe diese
schönen und bewegenden Erzählungen auch als Geschenk an die Zuhörenden in
schwierigen Zeiten verstanden. Von solchen Absichten distanzierte sich
Klaus Kastberger angesichts seiner Einladung Egon Christian Leitners ganz
entschieden.
Da ging es eher um einen Schlag ins Gesicht, denn Leitner trug eher etwas
wie eine sozialradikale Gardinenpredigt vor, eine tagebuchartig gereihte
Aufzählung sozialer Missstände der Gesellschaft. Er las dann, nur
konsequent, auch gleich in einer Kirche, irgendwann schlugen die Glocken.
## Brutale Sprache der Verwaltung
Leitner hat einen sehr eigenen Ton, das ist von gut gemeinter
Sozialpädagogik Welten entfernt. Da ist viel Wut, aber sie ist zu Sarkasmus
geronnen, einem Sarkasmus, der grimmig komisch und richtig böse sein kann,
der sich der hohlen und brutalen Sprache der Verwaltung des Menschen
anverwandeln kann, aber das Hohle und Brutale darüber keine Sekunde
vergisst.
Das ist in hohem Maß literarisch, von Leitner leider in einer zwar schön
österreichischen, aber doch leiernden Eintönigkeit vorgetragen, die die
Vielfalt der eigenen Töne reduziert. Dabei ist das, bei aller
philosophischen Ausgefuchstheit, die Leitner in einer längeren Wortmeldung
am Ende der Jury-Diskussion eher etwas kauzig als ganz überzeugend
vorführte, von so bohrender Konsequenz und Ungemütlichkeit, dass
Abwehrreflexe nicht ausbleiben können.
Ich sage das auch für mich selbst: Es ist die Sorte Exerzitium, der ich
mich, es bewundernd auf Abstand haltend, im realen Leserleben dann doch
lieber entziehe.
## Seltsam breitbeinig vorgetragen
Gegen diese drei Höhepunkte konnten die beiden Nachmittagstexte nicht
bestehen. Die Jury sah das etwas anders, nicht wenige wollten auch in
[6][Matthias Senkels] „Warenz“ Gekonntes erkennen. Da war auch, seltsam
breitbeinig vorgetragen, Gekonntes, aber die wichtigere Frage scheint mir,
warum man das, was Senkel da konnte, auch können sollte.
Im Detail des Hin- und Hersprungs zwischen den Zeiten (Zukunft gar auch)
war das ein zwar gut getüftelter, aber auch sehr schmaler, sehr um sich
selbst kreisender, sehr preziös formulierter, sehr auf die eigenen
Getüfteltheit fokussierter Text über allerlei Wissenswertes und
Geheimnisvolles rund um ein zwar titelgebendes, aber erfundenes
mecklenburgisches Warenz.
Vollends daneben dann zum Abschluss Levin Westermanns freilich sehr korrekt
betiteltes Prosagedicht „und dann“. Beziehungsweise ist „vollends daneben…
nicht richtig. Eher knapp daneben, würde ich sagen. Denn tatsächlich ist
dieses tierreich wiederholungsbesoffene, ritornellartig auf der Stelle
vorantretende, manchmal einen Reim, dann wieder keinen erhaschende Werk als
Wortklanginstallation nahe am Nonsens gebaut.
## Eine unfreiwillige Potenz
Es will sich aber nicht zu dieser Nähe und schon gar nicht zum Nonsens
bekennten, sondern speist, vor allem in Form von zusehends enervierendem
Namedropping immer wieder Sinnprätentionen in den eigenen potentiell
komischen Fortgang ein.
Aber der Ernst, auch des Vortrags, die leider auch sehr ernsthafte
Jurydiskussion machten klar, dass die Potenz so unfreiwillig ist, wie der
Text am Ende zu seinem großen Unglück unkomisch bleibt. Wer die Komik des
Ganzen sofort verstand, war allerdings Clemens Setz ([7][@clemensetz]), der
auf Twitter sofort begann, in der Machart von Westermanns Prosa zu dichten.
Und zwar genuin komisch und sehr toll und ganz spontan zu dichten.
Das ist an der intermedialen Verfasstheit des Bachmannpreises das Schöne:
Wenn die Jury mal nicht ihre fünf Sinne beisammen hat, dann springt Twitter
ein und sorgt dafür, dass es nicht langweilig wird.
20 Jun 2020
## LINKS
[1] /Erster-Tag-beim-Bachmannpreis/!5696385&s=bachmann/
[2] /Archiv-Suche/!1776789&s=Helga+schubert&SuchRahmen=Print/
[3] /Der-Verfall-der-Literatur/!5029021
[4] https://twitter.com/HHumorlos
[5] /Mietenpolitik-als-Klassenkampf/!5626308
[6] /Bachmann-Wettbewerb-in-Klagenfurt/!5089509
[7] https://twitter.com/clemensetz
## AUTOREN
Ekkehard Knörer
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