# taz.de -- Erster Tag beim Bachmannpreis: Anti-Klagenfurt in Klagenfurt | |
> Philipp Tingler gibt als Neuer in der Jury den Rabauken. Die Diskussionen | |
> am ersten Tag des Bachmannpreises waren meist besser als die Texte. | |
Bild: Im Splitscreen wie bei einer Zoom-Konferenz: die Jury des Bachmannpreises | |
Guter erster Lesetag, beim Bachmannpreis, was an den Texten eher weniger | |
lag. Die waren alle fünf bestenfalls Durchschnitt, was aber der Jury und | |
der Technik die Gelegenheit zur Selbstfindung gab. Mehr als auffällig | |
dabei: [1][Philipp Tingler,] der eine der beiden Neuen, der sich offenbar | |
einiges vorgenommen hatte. Auf Krawall gebürstet, nicht so sehr auf | |
Reflexionsfähigkeit, der sehr bald alle mit ständigen Zwischenrufen gegen | |
sich aufgebracht hatte. | |
Populistische Möchtegern-Opposition, hinter sich ein Foto von Margaret | |
Thatcher auf dem Sims, Anti-Klagenfurt in Klagenfurt, antiintellektuelles | |
Halbstarkengetue mit ostentativer Verachtung von Texten, die ihre Karten | |
nicht auf den Tisch legen, die in Inhalt und Form ins Offene zielen. Das | |
fein Gesponnene liegt ihm nicht, er will Texte, so schien es jedenfalls, | |
die verständlich sein wollen. | |
Kurz machten die anderen das mit, dann gab es Krach, auch weil die Technik | |
auf Zwischenrufe nicht gut reagiert. Die Signale kommen stets mit etwas | |
Verzögerung an, so dass bei jedem Zwischenruf das Gespräch aus dem Gleis | |
springt. | |
Erst gab es Kontra aus der Runde für den Störenfried, mal süffisant (Insa | |
Wilke), mal deutlich (Klaus Kastberger), später nachdrücklich von Moderator | |
Christian Ankowitsch, der in seiner abgedunkelten Studio-Black-Box in | |
Klagenfurt stets die komplette Jury im Blick hat, sieben fast manns- und | |
frauhohe Monitore nebeneinander, wie in einer Videoinstallation. Nach der | |
Mittagspause wurde das besser, Tingler war, wie er bekannte, auch vom | |
eigenen Ehemann zur Ordnung gerufen worden. | |
## Porträt eines toxischen Mannes | |
Ein Problem: Das Los hatte Jasmin Ramadan an den Anfang gesetzt, eine von | |
Tingler ausgewählte Autorin (unter anderem auch: taz-Kolumnistin). Und ihr | |
Text war, mit einem Wort: schlecht. Ein Romanauszug in zwei Kapiteln mit | |
wechselnden Protagonisten, offenbar der Versuch des Porträts eines | |
toxischen Manns namens Ben, ungelenke Prosa mit unklarer Erzählperspektive, | |
die einerseits aus dem Deklarationsmodus nicht herauskommt, andererseits | |
aber nicht verständlich werden lässt, wie und warum sich eine Leila für ihn | |
erwärmt oder warum man sich als Leserin für ihn interessieren sollte. | |
Tingler sagte was von „Stimme ihrer Generation“, das war so absurd, dass | |
der zum Groben eigentlich konstitutionell unfähige Hubert Winkels in seinem | |
Verriss sehr deutlich wurde. | |
Überhaupt war der Ton oft rauer als aus den letzten Jahren gewohnt. Das lag | |
sicher auch am Rabauken Tingler, womöglich ist es aber auch ein Effekt der | |
Tele-Präsenz. Der Schutz, den die spürbare räumliche Anwesenheit bietet, | |
fällt weg. | |
## Typische Überaktivität der Kameras | |
Was auch die Autor*innen traf, die sich in der digitalen Klagenfurt-Ausgabe | |
ihrerseits spalten. Denn die Lesungen sind voraufgezeichnet, die live | |
zugeschalteten Autor*innen werden so zum Publikum nicht nur der | |
Jurygespräche, sondern auch ihrer selbst. So sieht man im Zwischenschnitt | |
auch mal die Live-Carolina-Schutti, die in der Aufzeichnung der | |
Carolina-Schutti-Lesung zusieht. | |
Im Fernsehbild wechselt die Darstellung zwischen Solo-Auftritt und | |
Splitscreen, einer Zoom-ähnlichen Kachelung aller Jury-Mitglieder. Auch in | |
den Aufzeichnungen der Lesungen gibt es Sperenzchen. Mal die Autorin aus | |
verschiedenen Perspektiven selbdritt, mal fährt die Kamera in | |
Naheinstellung von der Lesehand ins Profil, als wolle sie eine Bergwand | |
erklettern: typische Überaktivität, die man von Theaterinszenierungen im | |
Fernsehen kennt. | |
Ein Horror Vacui, der dem Publikum nicht zutraut, sich auf den Text oder | |
ein Bild auch mal zu konzentrieren. | |
## Gewagter erster Satz | |
Wozu, zugegeben, wie gesagt, die Texte des ersten Tags auch nur sehr | |
bedingt Anlass boten. Lisa Krusche erzählte aus einer Zukunft, deren | |
Konturen bewusst ins Unscharfe gehen. Es geht um eine Judith, die gleich im | |
metaphorisch gewagten ersten Satz in einem Swimmingpool platziert wird, | |
dessen Wasser grün leuchtet „wie giftige Milch“. | |
Gelegentlich wird man im Text von nicem Internetslang angetriggert, dann | |
geht es in ein Videospiel, es gibt Briefe von einer Camille und | |
detailbeschreibungsfreudiges Science-Fiction-Worldbuilding, dem eines | |
allerdings fehlt: ein Sog, der einen hineinzieht und auf diese Welt | |
wirklich neugierig macht. | |
## Fiktive Reise nach Rumänien | |
Anders unbefriedigend: [2][Leonhard Hieronymi], der im Porträtfilm seine | |
Liebe zum Stunt bekennt, zu dem er auch seine Bachmann-Lesung erklärt. In | |
der Aufzeichnung dann eine Kappe mit dem, holla, doppeldeutigen Schriftzug | |
„Lies“, und ein Text, der von einer womöglich halb oder ganz fiktiven Reise | |
des Erzähler-Ichs nach Rumänien erzählt. | |
Das Ich reist nicht allein, sondern mit seinen Kumpels Marius und Pascal, | |
die der Kenner der Szene unschwer als die Schriftstellerkollegen Marius | |
Goldhorn (gerade ist sein Debüt-Roman „Park“ in der edition suhrkamp | |
erschienen) und Pascal Richmann entziffert. | |
Letzteres ist ein Problem, da bin ich nämlich befangen, denn Pascal kenne | |
ich und schätze ich ganz außerordentlich, und zwar persönlich, aber auch | |
für sein grandioses Buch „Über Deutschland, über alles“, das mit ähnlic… | |
Mitteln wie Hieronymi unendlich viel raffinierter umgeht. Mir ist | |
allerdings nicht ganz klar, was aus der Bekanntschaft nicht mit dem Autor, | |
sondern mit dem Protagonisten eines Texts rezensionsethisch folgt. | |
## Eingezogener doppelter Boden | |
Leider, oder zum Glück für mich, misslingt Hieronymi sein Stunt aber | |
sowieso, der, da folge ich der einen Deutungslinie in der Jury, den ständig | |
eingezogenen doppelten Boden der Selbstverwerfung des über Wikipedia-Wissen | |
nicht hinausgelangenden Protagonisten als Abgrund missversteht. | |
Schon klar: Nichts an diesem Text ist 1:1 zu verstehen, aber ob das | |
Realitäts- beziehungsweise Selbstreferenzverhältnis nun bei 1:1,3 liegt | |
oder bei 1:1,5, dieser Unterschied macht das Kraut nicht fett und die | |
Erzählung vielleicht zum Stunt, aber nicht im hinreichenden Maß zu | |
Literatur. | |
Ganz anders, nämlich Literatur-Literatur, gab es von Carolina Schutti, | |
eingeladen von Brigitte Schwens-Harrant, der zweiten Neuen in der Jury, die | |
mit zwar in der Regel klug differenzierten, aber sehr seltenen | |
Wortmeldungen am ersten Tag recht unauffällig blieb. | |
## Talkshow-Logik des Ganzen | |
Was, nebenbei gesagt, das Problem der Talkshow-Logik des Ganzen | |
verdeutlicht: Schwens-Harrant hat fraglos mehr und Spannenderes zu sagen | |
als die Dumpfbacke Tingler, aber sie kam vor lauter Zurückhaltung an diesem | |
ersten Tag selten dazu. | |
Allerdings war auch der Text ihrer Kandidatin kein Hit. Supersorgfältig | |
gefeilte Innenlebensprosa, wie man sie, da hatte zu allem Unglück sogar | |
Tingler einen Punkt, aus Klagenfurt-Zusammenhängen furchtbar vertraut ist. | |
Die Sorte gut gearbeiteter Text, der mit jedem seiner sorgfältig | |
gebosselten Sätze die Sehnsucht nach gröberen Reizen weckt. | |
Klaus Kastberger versprach: Von der Sorte kommt in den Tagen noch mehr, | |
aber viel besser. (Cliffhanger der nur halb überzeugenden Art, für mich | |
jedenfalls.) | |
## Internet-Frühzeit-Nostalgie | |
Zu guter, aber auch nicht ganz überzeugender Letzt: Jörg Piringer, den | |
Jurorin Nora Gomringer aus einer ganz anderen Ecke als der | |
Klagenfurt-Literatur-Literatur mitgebracht hatte. Piringer macht sonst | |
Sachen mit Elektronik, visuelle Posie, Computerspiel-Kunst. Seiner | |
Erzählung „kuzushi“ gelang die Quadratur des Kreises, nämlich die Frage | |
nach der Poesiefähigkeit von künstlicher Intelligenz klagenfurtkompatibel | |
zu machen, nur halb. | |
Der Text selbst blieb nämlich fast ganz konventionell, wenn auch bei aller | |
Internet-Frühzeit-Nostalgie klug. Spannender waren dennoch die | |
Selbstverständigungsgespräche, die der offenkundige Versuch des Autors, | |
sich an den Kontext anzupassen, hervorrief. Der Verdacht stand im Raum, | |
Piringer traue dem von der Jury verkörperten Literaturbetrieb ein | |
Verständnis der Dinge, die er sonst eigentlich treibt, gar nicht erst zu. | |
So blöd, diesen Move nicht zu erkennen, war die Jury jedenfalls nicht. Am | |
Ende des ersten Tags stand im Kräftemessen zwischen Literatur und Diskurs, | |
um das es in Klagenfurt immer schon eigentlich geht, darum ein Punktsieg | |
für die Kritik. | |
19 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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