# taz.de -- Bachmann-Preis für Helga Schubert: Fremdscham und viel Liebe | |
> Helga Schubert ist die Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2020. In | |
> Klagenfurt stellt sich heraus: Selbst per Videokonferenz lässt sich | |
> streiten. | |
Bild: Public Viewing in Klagenfurt anlässlich des diesjährigen Ingeborg-Bachm… | |
Endgültig eskalierte alles, als sich der Juror Philipp Tingler aus seiner | |
Wohnung in Zürich direkt an die Autorin Lydia Haider wandte, um sie zu | |
fragen, was sie mit ihrem Text sagen wollte. Und zwar gleich nach der | |
Lesung, die Diskussion hatte noch gar nicht begonnen. Haider, die zuvor zur | |
eigenen, in einem Wiener Restaurant oder Kaffeehaus aufgezeichneten Lesung | |
live sichtlich angetan mitgewippt hatte, wies von der Couch aus das | |
Ansinnen entschieden zurück. | |
Das sei ja wohl der Job der Kritik und nicht ihrer. Im Hintergrund tobte | |
der in Berlin sitzende Jury-Vorsitzende Hubert Winkels und wies Tingler mit | |
demselben Hinweis scharf zurecht. Dieser Clash war sicher nicht der | |
Höhepunkt der diesjährigen Bachmann-Tage, aber doch der Moment, an dem die | |
Techno- und Psycho-Dynamik der Veranstaltung am deutlichsten wurde. | |
Zum einen: So ein Zusammenstoß gelingt auch mühelos, wenn die Anwesenden | |
gar nicht vor Ort, sondern aus Berlin, Wien, Zürich zugeschaltet sind. In | |
einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk behauptete Sigrid Löffler gar, die | |
Abwesenheit des Publikums bringe ein solches „Relevanztheater“ erst hervor. | |
Was kaum plausibel ist, wie gerade sie als langjähriges Mitglied des | |
„Literarischen Quartetts“, also einer Form von Kasperletheater mit | |
Literatur, genau wissen sollte. Die Erfahrung mit den Talkshows der | |
Coronazeit zeigt eigentlich eher das Gegenteil: Ohne ständiges Gieren nach | |
Zustimmung bleiben die Diskutierenden eher bei der Sache und kommen | |
schneller zum Punkt. | |
## Dem Schnellen, Witzigen nicht wirklich zugeneigt | |
Technisch gab es am ziemlich minutiösen Live-Schalten-Nachbau genau ein | |
Problem: Ton und Bild kamen jeweils verzögert an, das war trotz | |
professioneller Übertragung ganz wie bei Zoom. Dies machte die schnelle, | |
witzige Reaktion in der Jury-Diskussion schwierig. Man muss allerdings | |
sagen, dass diese Jury ohnehin nicht zum Schnellen, Witzigen neigt, dafür | |
eher zu etwas sinnlosen Grundsatzdiskussionen. | |
Die Verzögerung verschärfte allerdings technisch, was diskussionsethisch so | |
oder so ein Problem war: die ständigen Zwischenrufe des Kritikers Philipp | |
Tingler, der nicht nur Thatcher-Fan, sondern auch Schriftsteller ist und | |
als solcher 2001 in Klagenfurt nicht reüssierte. „Extreme Koketterie und | |
Selbstverliebtheit“ hatte Konstanze Fliedl damals, den Text betreffend, | |
moniert. Mit seiner Performance lieferte Tingler wenig Grund, in seinem | |
Fall für die Trennung von Autor und Werk zu plädieren. Dafür jeden Grund, | |
ihn gleich wieder aus der Jury zu kicken. | |
Mächtiger als Jurys sind allerdings jene, die Jurorinnen und Juroren | |
berufen. Er war offenkundig als Enfant terrible gecastet. Das heißt: Die | |
Veranstalter wollten diese Form von Spektakel. In eine ähnliche Richtung | |
zielte das Zusatzcasting der Autorin Julya Rabinowich und des Kritikers | |
Heinz Sichrovsky aus Wien. Rabinowich war super und mischte sich | |
zwischendurch auch ins Twittergespräch. Sichrovsky dagegen war leider | |
selbst als Netzverächter und alter weißer Mann aus dem Bilderbuch | |
fehlbesetzt, weil einfach zu doof. | |
Ein Rohrkrepierer war überdies der Versuch, die auch in diesem Jahr extrem | |
lebhafte Twitterdiskussion live einzubeziehen. Jedes Mal, wenn Moderator | |
Christian Ankowitsch zum Tisch des steifen Magister Suri stakste, der dann | |
meist irgendeinen witzlosen Quatsch vorlas, überkam mich die Fremdscham. | |
## Großartiger Porträtfilm über Lydia Haider | |
Aber was wollte nun Lydia Haider – am Ende Trägerin des Publikumspreises – | |
mit ihrem Text sagen? Einfach nur großartig war ihr Porträtfilm gewesen, | |
ein Song mit ihrer Band gebenedeit, mit Refrain zur „Missgeburt Gottes“, | |
das passte zum Text. Der war vom Wiener Aktionismus und Jelinek | |
herkommender Splatter mit Hund und Blut und Gewalt, mit Komma durchaus, | |
aber ganz wenig Punkt. | |
Ein Plot nur in Fetzen, eine Suada, der aber leider nicht gelang, was | |
Suaden gelingen muss: eine*n zu packen, mitzuzerren, und sei's am Genick | |
und sei's durch den Dreck. Zu viel Bluthund mit Kunstblut bei Haider, mit | |
zu viel Selbstgenuss vorgetragen, zu kalkuliert wirkte das Ganze, selbst | |
wenn man der Autorin die Wut durchaus abnimmt. Sie ist dann als Sängerin | |
wohl einfach besser. | |
Es war trotzdem der interessanteste Auftritt am dritten Tag, wenngleich die | |
letzte Vortragende, Meral Kureyshi, bei der Jury zu schlecht wegkam. Ihr | |
Text erzählt von einer jungen Frau, die in einem Museum an drei Männer | |
denkt, aber die Geschichte ist nicht so wichtig. | |
Wichtig sind die Sätze, nicht stringent verbundene Beobachtungsketten, die | |
aber gerade mit dem Mangel an stringenter Verbundenheit eine Offenheit | |
produzieren, die nicht diffus und unbestimmt bleibt, sondern die Präzision | |
des Gesagten mit einem nicht minder präzis ungesagt Bleibenden unterlegt. | |
## Laura Freudenthalers sehr typischer Klagenfurt-Text | |
Nicht zu schlecht, sondern zu gut dagegen kam in der Diskussion weg: Laura | |
Freudenthaler mit einem sehr typischen Klagenfurt-Text. Eine Frau in einer | |
Notsituation, quasi-apokalyptisch bedrängt, es geht um herannahendes Feuer, | |
die Situation wird nicht ganz klar, die Sätze sind kurz, einfach, der | |
Vortrag temperamentlos wie der Text auch, der seine Motive so sorgfältig | |
wie vorhersehbar durchführt. | |
Gleich wieder die Mäuse, denkt man – und da kommen sie schon. Gleich wieder | |
das Feuer – und da kommt es dann auch. Es geht um den Wald, der Mann, der | |
eine Rolle spielt, trägt den sprechenden Namen Silvius, alles ist | |
unaufdringlich determiniert, man kann Bedeutungen herauslesen, die | |
hineingelegt sind. Jurorin Brigitte Schwens-Harrant entschied auf | |
„Meisterwerk“. Kunstgewerbe wäre mein Wort dafür. Bitter dennoch für sie, | |
wie sie angesichts des vielen Lobs bei der Abstimmung von Anfang an im | |
Spiel war, dann aber bis auf Platz vier, zum 3sat-Preis, durchgereicht | |
wurde. | |
Der launischste Meister des Bewerbs ist das Los. Das hatte nach | |
Zufallsprinzip, wie es so seine Art ist, entschieden, die drei besten Texte | |
geschlossen und hintereinander weg am Freitagvormittag zu platzieren. | |
Weithin unangefochtene Favoritin der Jury wie auch auf Twitter und dann | |
auch die einzig logische Gewinnerin des Bachmann-Preises war Helga Schubert | |
mit ihrer gerade richtig kunstvollen autobiografischen Erzählung „Vom | |
Aufstehen“, die auf viel Liebe stieß, auch wenn Kollege Tingler ein | |
unzureichendes Verständnis von Autofiktion vorführen musste. | |
Gleich darauf Hanna Herbst, die ihren Text vom sterbenden Vater (pater | |
incertus, meinte Juror Kastberger, aber hier stimmte das eigentlich nicht) | |
und dem Verhältnis der Tochter zu ihm mit pointierten Miniaturen vielleicht | |
etwas zu sehr auf Effekt kalkulierte. Andererseits: So schön pointierte | |
Miniaturen muss man auch erst mal können. | |
## Über tausend Seiten Sozialstaatsroman | |
Drittens dann noch Egon Christian Leitner, am Ende Kelag-Preisträger, mit | |
einer Fortsetzung seines Projekts eines Sozialstaatsromans, aus dem schon | |
mehr als tausend Seiten veröffentlicht sind. Nur der oberflächlichste Blick | |
lässt eine Verwechslung mit ganz auf die gesellschaftskritische Botschaft | |
fokussierter Literatur zu. | |
Der bösartig komische, manchmal aber auch schelmische Ton, das Obsessive, | |
die Ernsthaftigkeit, die allem zugrundeliegt: Man kann dagegen vor allem | |
Dinge sagen – wie etwa, dass das auf die Dauer etwas Zermürbendes hat –, | |
die in Wahrheit gerade für Leitners Literatur sprechen. | |
Gegen die formale Bandbreite der Auswahl war wenig zu sagen: Lisa Krusche, | |
die mit dem Preis des Deutschlandfunks auf den zweiten Platz kam, nahm in | |
ihre Science-Fiction-Erzählung viel heutiges Internet-Feeling. Jörg | |
Piringer brachte eine künstliche Textintelligenz zum Sprechen. Und doch | |
wirkte das Ganze, aller Virtualität zum Trotz, etwas von gestern. | |
Auf Twitter fiel irgendwann auf, dass ganz anders als im Vorjahr bei | |
Clemens Setz, in den Diskussionen der Jury kein einziges Mal auf den | |
Eröffnungsvortrag von Sharon Dodua Otoo Bezug genommen wurde. Sie hatte | |
darin als Schwarze Autorin über inklusive Sprache nachgedacht. | |
Nun kann man natürlich sagen, dass die vorgelesenen Texte keinen Anlass zu | |
Diskussionen über Sprecherpositionen und zu sprachlicher In- und Exklusion | |
boten. In der Summe, nämlich in dem, was sie für die Auswahlkriterien zur | |
Jury und der Jury sagt, ist gerade das aber ein großes Problem. | |
21 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
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