# taz.de -- Kunst und Kulturgeschichte des Waldes: Lernen, wie ein Baum zu denk… | |
> Die Trennung von Natur und Kultur wollte schon die Romantik überwinden. | |
> Daran knüpfen drei Ausstellungen über den Wald im Raum Frankfurt an. | |
Bild: Ausschnitt aus: August Cappelen (vollendet von Johann Wilhelm Schirmer), … | |
taz | „Die Revolution beginnt mit einem Spaziergang im Wald“, schreibt der | |
britische Autor und Aktivist Ben Rawlence in „The Tree Line“, seinem schon | |
2022 erschienenem Buch über das Nordwärtswandern von Wäldern. Denn, so | |
argumentiert Rawlence, „Ökologie ist die Basis nationaler Sicherheit und | |
Resilienz“. | |
Ein solches Denken, das beim Einleben in den Wald als Mittel seiner Rettung | |
ansetzt, hat Konjunktur. Das Verständnis von Bäumen wird zum Schlüssel für | |
ökologisches und Klimabewusstsein sowie gleichzeitig eine neue Ethik des | |
Miteinanders zwischen menschlicher und nichtmenschlicher Lebenswelt. Die | |
Logik ist klar: Wer eine Beziehung zu seiner Umwelt aufbaut, sorgt (sich) | |
anders für sie. | |
Formulierungen wie „Lernen, wie ein Wald zu denken“ finden sich daher nicht | |
nur bei Rawlence, sondern werden zuweilen fast schon zur Erlösungsfantasie. | |
Auch die Bezeichnung „mothertree“ der viel zitierten | |
Baumforschungspionierin [1][Suzanne Simard] ist in diesem Sinn ein | |
Schlagwort, das starke Assoziationen weckt. Er wird verwendet für einen | |
Baum, der über ein weit ausgebreitetes unterirdisches | |
Kommunikationsnetzwerk verfügt, das teilweise auch artenfremde Lebewesen | |
versorgt – und steht damit für einen erweiterten Fürsorgebegriff. | |
Der verstärkte Wald-Einlebens-Wunsch hat für neue Perspektiven aus | |
unterschiedlichen Disziplinen zwischen [2][Ökologie und Wellness], Kunst, | |
Wissenschaft und Publizistik gesorgt. Auch Deutschland hat eine | |
Publikationswelle über Baumwissen erfasst – allen voran der Bestseller | |
„Das geheime Leben der Bäume“ des Försters Peter Wohlleben. Trends wie das | |
der Ökosex-Bewegung verwandte „Bäume umarmen“ oder das „Waldbaden“ (e… | |
Japan geprägter Ansatz für Spazierengehen) gehören inzwischen ebenfalls | |
zum Lifestylen. | |
Diese Tendenzen sind jedoch im Kern gar nicht so neu, wie sie wirken. Das | |
zeigen derzeit unter dem Titel „Wälder. Von der Romantik in die Zukunft“ | |
das Frankfurter Senckenberg Naturmuseum, das Deutsche Romantik-Museum sowie | |
das Bad Homburger Museum Sinclair-Haus. Diese drei Museen haben sich unter | |
der Leitung der Kulturwissenschaftlerin Nicola Lepp zu einer gemeinsamen | |
Übersichtsschau zur Beziehungsentwicklung zwischen Menschen und Bäumen | |
zusammengetan. | |
## Komplexität mit den Sinnen begreifen | |
Vor allem der große Bogen der Ausstellungen ist spannend. Dass der Begriff | |
„romantisch“ zum Synonym von „gefühlstaumelig“ oder „schwärmerisch�… | |
hinterlässt nach dem Besuch der drei Museen ein großes Fragezeichen. Denn | |
die Texte und Gemälde aus der Zeit zeigen das unerwartet aktuelle Bemühen | |
der Romantik, die Trennung zwischen Körper und Geist, Kultur und Natur, wie | |
sie die Aufklärung als fortschrittlich annahm, zu überwinden. Auch damals | |
war der Wunsch prägend, sich in komplexe, mehr als menschliche | |
Lebensrealitäten einzuleben. | |
Davon zeugt beispielsweise das spezifische Genre der „Erdlebenbilder“ – e… | |
Begriff, der von dem Arzt und Maler [3][Carl Gustav Carus] 1835 für Gemälde | |
und Zeichnungen geprägt wurde, in denen Empfinden und naturkundliches | |
Wissen von Künstler:innen im Sinn „einer tieferen Anschauung“ | |
zusammenwirken. Zu den Malern, die für dieses Genre stehen, zählt zum | |
Beispiel August Cappelen, der sterbende Wälder malte, oder Wilhelm Klein, | |
der, quasi im Gegenzug, idealisierte, vom Menschen unberührte | |
„Waldinneres“-Gemälde schuf. | |
Ähnliche Tendenzen finden sich in der Auswahl zeitgenössischer Kunst. Etwa | |
auf der Unterholz-Wimmelbild-Fotografie „Paradise 21“ von [4][Thomas | |
Struth] oder in digitalen Visualisierungen einer posthumanen | |
Mammutwald-Landschaft von Jakob Kudsk Steensen. | |
## Zurück zu Zeiten der Romantik | |
Auch in der Zeit der Romantik war die extensive Ausschöpfung natürlicher | |
Ressourcen ein Grund, sich auf die Verbindung mit der Natur | |
zurückzubesinnen. Um 1800 gab es, da Bäume als Bau- und Brennmaterial | |
verwendet wurden, auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands weniger Wald als | |
heute. | |
So zeigt das Romantik-Museum ein Gutachten von Friedrich von Hardenberg, | |
als Dichter bekannt unter dem Namen Novalis, der mit der Auswertung von | |
Braunkohle als alternatives Brennmaterial beauftragt war. | |
Interessanterweise scheinen die heutigen Wald- und Umweltschäden teilweise | |
auf das Problemerwachen zu Zeiten der Romantik zurückzugehen. Denn dieses | |
hat nicht nur zur alternativen Exploration von Braunkohle geführt, sondern | |
auch zur Aufforstung mit Monokulturen. | |
Das Resultat kennen wir – saurer Regen, extreme Schädlingsanfälligkeit. | |
Diese Erkenntnis könnte eine gesunde Skepsis kitzeln: Wird, was heute als | |
problembewusst gilt, in 200 Jahren selbst zum Problem? | |
## Der Baum in der Parfumflasche | |
Ein anderes Dokument lässt den [5][Dichter Novalis selbst zu Wort] kommen: | |
„Ich weiß nicht, warum man immer von einer abgesonderten Menschheit | |
spricht. Gehören Tiere, Pflanzen und Steine, Gestirne und Lüfte nicht auch | |
zur Menschheit und ist sie nicht ein bloßer Nervenknoten, in den unendlich | |
verschiedenlaufende Fäden sich kreuzen?“ | |
Eine zeitgenössische Antwort auf diese Frage sucht die Ausstellung in der | |
künstlerischen Spekulation, ausgehend von wissenschaftlichen Daten. Wie das | |
Dufterlebnis „One Tree ID – How to Become a Tree for Another Tree“ von | |
Agnes Meyer-Brandis, das Gasmoleküle eines Baumes in ein Parfüm | |
verwandelt. Etwas zaghafter kommt in der Schau der Versuch daher, die | |
klassischen Methoden der Wissenschaft zu hinterfragen und andere, | |
[6][ganzheitliche Wissensformen, wie jene indigener Kulturen, | |
einzubeziehen]. | |
Sinnlich wird die Ausstellung bei ihren vielen Hörinstallationen. Ein | |
besonderes, „ganzheitliches“ Erlebnis schafft dabei „Fragments of | |
Extinction – The sonic heritage of primary forests“ von David Monacchi. Das | |
zeitgenössische Soundkunstwerk lässt die Hörer:innen tief in die | |
ausbalancierte Akustik eines gefährdeten Primärwaldes im Nordosten Borneos | |
eintauchen. Hoch, tief, fern, nah, fragend, fordernd, forsch und zögerlich | |
und noch viel, viel mehr Nuancen emotionaler Beziehungen bilden ein | |
melodisches, tonliches und intelligentes Geflecht. | |
## Manchmal ist auch eine Stadt ein Wald | |
Anhand solcher Erfahrungen lässt sich nachvollziehen, dass die sinnliche | |
und intellektuelle Tätigkeit des Zuhörens für den Anthropologen Eduardo | |
Kohn zur Grundlage einer neuen Ethik werden kann. Im lesenswerten | |
Ausstellungsmagazin ist der Ausschnitt eines Essays von ihm abgedruckt. Mit | |
„Wald“ bezeichnet Kohn darin, inspiriert vom indigenen Denken der Sápara | |
und Runa, „jede Entität, die als ‚Ökologie des Geistes‘ verstanden werd… | |
kann. Im Sinne dieser Eigenschaften ist unser Darmmikrobiom ein Wald, unser | |
Geist mit seinen vielfältigen Ichs ist ein Wald und manchmal kann auch eine | |
Stadt ein Wald sein.“ | |
Um dieses Walddenken zu erreichen, brauche es eine „Technologie des | |
Selbst“: „Das fragliche Selbst ist jedoch eines, das entsteht und vergeht, | |
weil es erkennt, dass es Teil des größeren, im Entstehen begriffenen und | |
vorläufigen Selbst des uns erschaffenden Waldes ist.“ Auf diese Art kann, | |
so lässt sich weiterdenken, ein Mensch letztlich zum Baum werden. Das wäre | |
vielleicht tatsächlich eine Revolution, zumindest nicht das Schlechteste, | |
was den Ichs dieser Welt passieren kann | |
15 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
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