# taz.de -- Buch über George Orwell als Gärtner: Die Blumen des Dystopikers | |
> Die US-Schriftstellerin Rebecca Solnit hat für ihr neues Buch über George | |
> Orwells Leben als Gärtner recherchiert – eine anregende Lektüre. | |
Bild: Hier schrieb Orwell „1984“ und pflegte seinen Rosengarten: Barnhill, … | |
Der Titel dieses Buches ist überraschend, bringt er doch zwei | |
Assoziationsbereiche zusammen, die wir normalerweise nicht zusammendenken. | |
[1][George Orwell] ist den meisten von uns vor allem als Autor von „1984“ | |
und „Die Farm der Tiere“, mithin als großer Dystopiker, linker Skeptiker | |
und bitterer Satiriker ein Begriff. Ja, und dieser Mann hatte also Rosen? | |
Und warum sollte uns das interessieren? | |
Diese leichte Irritation, die mit der mentalen Verarbeitung der | |
unerwarteten Begriffszusammenstellung „Orwells Rosen“ einhergeht, ist der | |
kleine Haken, den die versierte Essayistin Rebecca Solnit in unser Hirn | |
schlägt, der Teaser, mit dem sie unsere Neugierde und unsere Aufmerksamkeit | |
triggert und der uns einlädt, ihr auf ungewohnten Wegen zu folgen. | |
Wir erfahren sehr viel über [2][George Orwell] in diesem Buch; unter | |
anderem auch (Orwell-KennerInnen wissen das natürlich sowieso), dass er | |
eigentlich ganz anders hieß, nämlich Eric Blair. Warum er seinen Namen | |
nicht beruflich verwenden wollte, wird nicht wirklich klar, Solnit | |
umkleidet auch dieses Thema, wie viele andere, sorgsam mit einer Menge | |
Hintergrundinformation und überlässt es uns selbst, Schlüsse aus den Fakten | |
zu ziehen oder auch nicht. | |
Blair ist ein schottischer Nachname. George Orwell war in jungen Jahren | |
dezidiert antischottisch eingestellt. Der Orwell ist ein Fluss in der | |
Grafschaft Suffolk, eigentlich sogar nur ein Teilstück, der Unterlauf eines | |
Flusses, der in die Nordsee mündet. Und „George“ bedeutet „Bauer“; au�… | |
ist der heilige Georg der Schutzpatron Englands. | |
## Orwells Leben und Schreiben | |
Ausschnitthaft werden Aspekte von Orwells Leben und Schreiben beleuchtet. | |
Seine politischen Ansichten, seine prekäre Gesundheit (er starb mit 46 | |
Jahren an Tuberkulose), die Essays und Kolumnen, die er für Zeitungen und | |
Radio schrieb; denn er lebte größtenteils vom Journalismus. Ein | |
vollständiges Bild des Menschen George Orwell/Eric Blair entsteht in | |
Solnits Buch nicht, aber das dürfte auch nicht in der Absicht der Autorin | |
gelegen haben. | |
Es geht ihr darum, die Perspektive zu ändern, von einer ungewohnten Seite | |
auf den berühmten politischen Autor zu blicken. Orwell war ein | |
passionierter Gärtner, und noch mehr als das. Er legte nicht nur als junger | |
Mann einen Garten mit Obstbäumen und Blumen an, sondern betrieb in späteren | |
Jahren, sozusagen nebenbei, während er in der Nachkriegszeit an „1984“ | |
schrieb, eine regelrechte Farm auf einer einsam gelegenen Hebrideninsel. | |
Viele seiner Essays handeln von der Natur; und er führte ein | |
Alltagstagebuch, in das er detailliert eintrug, welche Gartenarbeiten er | |
erledigt hatte, wie die Obstbäume trugen, welche Pflanzen blühten und | |
welche schlecht gediehen. | |
## Orwells Rosen und Obstbäume | |
Mit den Rosen hat es dabei eine besondere, eigentlich fast zufällige, | |
Bewandtnis. Denn als Rebecca Solnit das Häuschen aufsucht, in dem der | |
berühmte Autor in den dreißiger Jahren wohnte, steht dahinter ihr Anliegen, | |
die Obstbäume zu besichtigen, die George Orwell einst gepflanzt hat. Doch | |
während von den längst gefällten Bäumen nur noch vermooste Stümpfe übrig | |
sind, finden sich überraschenderweise ein paar große, uralte Rosenbüsche im | |
Garten, von denen die aktuelle Eigentümerin behauptet, sie seien dieselben, | |
die Orwell einst gepflanzt habe. | |
Diese Rosen geben Solnits Recherche, und damit dem Buch, das sie schreiben | |
will und hiermit geschrieben hat, eine völlig neue Richtung. Denn während | |
ein Obstbaum unter dem Nützlichkeitsaspekt betrachtet werden kann, da er | |
Nahrung bedeutet, bedienen Blumen allein das ästhetische Empfinden und | |
damit eine womöglich zweckfreie, dekadente Freude am Dasein, wie sie unter | |
aufrechten Linken, zu denen Orwell schließlich gehörte, lange Zeit verpönt | |
beziehungsweise geradezu ideologisch verdächtig war. | |
Diesem Gefühl der Freude, das durch die Rosen verkörpert wird, und der | |
Verbundenheit mit der Natur, die sich in Orwells gärtnerischer Tätigkeit | |
ausdrückt, spürt Solnit in Werk und Leben des Autors nach, betrachtet ihr | |
Sujet aber auch von der anderen Seite aus: von der Seite der Rosen. | |
Sie schreibt über die Entstehung und die revolutionäre Bedeutung des | |
Slogans „Brot und Rosen“ und seine philosophischen Implikationen, über die | |
italienisch-mexikanische Fotografin Tina Modotti, die das wohl berühmteste | |
Rosenbild der Fotografiegeschichte aufnahm, bevor sie zur beinharten | |
Stalinistin wurde, und über die gigantischen Gewächshäuser in Kolumbien, in | |
denen in fabrikmäßig organisierter Fließbandarbeit Abermillionen von Rosen | |
für den nordamerikanischen Markt produziert werden. | |
## Die Welt mit Worten erfassen | |
„Orwells Rosen“: Rebecca Solnit wird mit dem, was sie hier tut, dem Begriff | |
„Essay“ insofern wortwörtlich gerecht, als sie immer wieder neu ansetzt, | |
sich ihrem Doppelthema zu nähern. Jedes Schreiben kann immer nur ein | |
Versuch sein, die Welt mit Worten zu erfassen. So folgt hier denn Versuch | |
auf Versuch; in jedem Kapitel wechselt die Autorin die Perspektive, | |
umkreist mit Worten und Fakten einen neuen Ausschnitt der Welt, eine neue | |
Schnittmenge der gewählten Themenkreise. | |
Über beide erfahren wir hier viel, zum Beispiel auch, dass Orwell seine | |
Rosen für Sixpence bei Woolworth zu kaufen pflegte und darüber in einer | |
Zeitungskolumne schrieb. | |
Das ist sicher nicht das Wichtigste, was es über ihn zu wissen gibt; aber | |
allein die Tatsache, dass sich aus einem scheinbar abseitigen Thema eine | |
wahre Fülle an ästhetischen, gesellschaftlichen, politischen und | |
alltagsphilosophischen Aspekten ergeben kann, macht Solnits scheinbar | |
anstrengungsloses und dabei so achtsames gedankliches Wandern von einem | |
Stück Wissen zum nächsten zu einer anregenden Lektüre. | |
13 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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