| # taz.de -- Neue Realitäten im Ukraine-Krieg: George Orwell neu lesen | |
| > Der russische Krieg gegen die Ukraine dauert schon über zwei Monate. Und | |
| > die russischen Nachrichten über diesen Krieg werden immer absurder. | |
| Bild: „Dieser Krieg dauert schon zwei Monate, die wie eine Ewigkeit erscheine… | |
| Aus Sankt Petersburg | |
| Das Schlimmste, was mir hätte passieren können, wäre gewesen, mich an den | |
| Krieg zu gewöhnen. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Der Schrecken und die | |
| Trauer der ersten Tage sind vorbei. Geblieben ist eine zähe, schleimige | |
| Niedergeschlagenheit. Um mich herum scheint alles wie mit Raureif | |
| überzogen, wie unter einer dicken Eisschicht. Seit zwei Monaten greifen | |
| alle psychischen Schutzmechanismen. Über alles, was wir konnten und nicht | |
| konnten, haben wir lange diskutiert, geschrieben, gestritten, gekämpft und | |
| uns wieder versöhnt. Und jetzt? | |
| Bei uns im Büro haben wir aufgehört, die Nachrichten zu diskutieren. Nur | |
| alle paar Tage fragt jemand: „Was ist mit den Verhandlungen, haben sie sich | |
| geeinigt?“ Nein, sie haben sich nicht geeinigt. Vermutlich werden sie sich | |
| nie einigen. Vermutlich wird es lange dauern, vielleicht hört es nie auf. | |
| Dieser Krieg dauert schon zwei Monate, die wie eine Ewigkeit erscheinen. | |
| Ich schreibe meiner Freundin eine Nachricht, und frage, wie es ihr geht. | |
| Sie antwortet: „Wie es allen geht. Kind, Haushalt, Job, Krieg.“ „Wie es | |
| allen geht“ – das ist die beliebteste Antwort gerade. Man sagt natürlich | |
| nicht „schlecht“. Denn „schlecht“ ist es nicht bei uns, sondern dort, wo | |
| geschossen wird. Und „normal“ antwortet man auch nicht mehr. Weil es | |
| „normal“ ist, wenn kein Krieg ist oder wenn man ihn vergessen hat. Aber wir | |
| haben ihn nicht vergessen. Wir haben uns daran gewöhnt. Der Krieg ist | |
| einfach da. | |
| War es vor einem Monat noch unmöglich, sich vom Strom der Nachrichten zu | |
| lösen, verbringt man damit jetzt noch etwa eine Stunde pro Abend: Analysen, | |
| eine Reportage aus der Ukraine, und natürlich [1][die russischen | |
| Nachrichten – eine wilder als die andere]. „Ein Kindertrainer wurde | |
| beschuldigt, die Streitkräfte zu diskreditieren. Er hat den Buchstaben Z | |
| von der Tür einer Sportschule entfernt.“ | |
| [2][„Ein Lehrer wurde wegen eines Posts über den Krieg in den sozialen | |
| Medien entlassen.“] „Von September an wird am Anfang jeder Unterrichtswoche | |
| in den Schulen die Nationalhymne gesungen.“ „In Kurgan verkauft man jetzt | |
| Osterkuchen, die mit dem Buchstaben Z verziert sind.“ | |
| Und zwischen all dem in den Regionalnachrichten tauchen neue Bilder | |
| gefallener Soldaten auf. Wenn ich mit der Metro zur Arbeit fahre, achte ich | |
| manchmal aus Neugier darauf, welche Bücher die anderen Fahrgäste lesen. | |
| Schon mehrmals habe ich dabei „1984“ von George Orwell entdeckt. Das ist, | |
| so scheint mir, überhaupt das meisterwähnte Buch der letzten Monate. | |
| Wenn man darüber spricht, fügt man jetzt noch einen traurigen Scherz an: | |
| „Zu spät, jetzt noch Orwell zu lesen. Wir leben schon längst in seiner | |
| Realität.“ | |
| Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey] | |
| Das Projekt wird finanziert von der [4][taz Panter Stiftung]. | |
| 30 Apr 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Olga Lizunkova | |
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